Der freundliche Mr Crippen | Roman
gedacht. Niemand erinnert sich gern an den gestrigen Abend. Ich muss sagen, John, ich werfe es Ihnen nicht vor, dass Sie ihn über Bord werfen wollten. Wenn er versucht hätte, mein …« Er suchte nach dem richtigen Wort, entschloss sich dann aber, bei der offiziellen Version zu bleiben. »… meinen Sohn mit dem Messer anzugreifen, hätte ich wahrscheinlich das Gleiche getan. Nur hätte ich mich von niemandem aufhalten lassen.«
»Ich wollte ihn nicht verletzen«, erklärte Mr Robinson. »Ich bin von Natur aus kein gewalttätiger Mensch, obwohl wir alle unsere Schmerzgrenze haben. Aber ich muss eines klarmachen: Es darf keine Wiederholung des gestrigen Vorfalls geben.«
»Natürlich nicht.«
»Wissen Sie, Mrs Drake war gerade bei mir …«
»Sie haben mein Mitgefühl.«
»Sie weiß nichts von Toms Beteiligung an den Geschehnissen gestern Abend, und ich finde, es wäre das Beste, es dabei zu belassen. Sie glaubt, es gab einen kleinen Streit zwischen Victoria und Edmund, und sie verlangt von mir, ihn von ihr fernzuhalten, wogegen Edmund nichts einzuwenden hat. Allerdings dachte ich, Sie sollten davon wissen, denn wenn Mrs Drake erfährt, was wirklich geschehen ist, läuft sie zweifellos zum Kapitän.«
Matthieu Zéla nickte. »Und Sie, Mr Robinson«, fragte er nach kurzem Nachdenken, »warum lassen Sie sie nicht?«
»Wie bitte?«
»Nun, Edmund war ganz offenbar ohne jede Schuld an den Geschehnissen. Mein Neffe hat ihn eindeutig angegriffen, vielleicht hätte er ihn sogar getötet. Und er hätte auch Victoria Drake ernsthaft verletzen können, hätte er nur die Gelegenheit dazu bekommen. Warum also wollen Sie nicht, dass der Kapitän davon erfährt? Sie könnten gut als eine Art Held in der Sache erscheinen.«
»Ich dachte, ich überlasse diese Geschichte besser Ihnen«, sagte Mr Robinson. »Schließlich sind Sie der Vormund des Jungen. Ich dachte, zusätzliche Unannehmlichkeiten wären da nicht auch noch erforderlich.«
»Das ist nett von Ihnen«, antwortete Matthieu, obwohl er keinen Moment lang glaubte, dass das der wahre Grund für Mr Robinsons Schweigen war.
Die Badtür öffnete sich, und Tom DuMarqué trat in den Raum, ein Handtuch um die Hüften gebunden, mit einem zweiten trocknete er sich das nasse Haar. So ohne Hemd wirkte er eindeutig muskulöser, als Mr Robinson gedacht hatte, und er begriff, in wie großer Gefahr Edmund tatsächlich gewesen war. Tom blieb überrascht mitten im Raum stehen, als er ihren Besucher sah, und starrte ihn verächtlich an, bevor er sich an seinen Onkel wandte.
»Was macht
der
hier?«, fragte er, ohne sich einen Schritt weiterzubewegen.
»Er spricht mit mir, du junger Schläger«, sagte Matthieu munter. »Im Übrigen denke ich, du solltest dich bei Mr Robinson entschuldigen. Das ist jetzt die perfekte Gelegenheit.«
Tom schnaubte, sah auf seine nackten Füße und murmelte etwas in sich hinein.
»Tom, wir haben darüber gesprochen«, sagte Matthieu mit strenger Stimme. »Ich habe dir erklärt, was passiert, wenn du dich
nicht
entschuldigst.«
»Es tut mir
leid«
, rief Tom mit der Stimme des bockigen Teenagers, der er war. »Aber er hat versucht, mich umzubringen.«
»Vielleicht hat er beim nächsten Mal ja Erfolg damit.«
»Hast du ihn nach …?«
»Tom, geh und zieh dich an.«
»Aber ich will wissen, warum Edmund …«
»Geh und zieh dich an«, wiederholte Matthieu Zéla mit scharfer Stimme. »Auf der Stelle. Ich kümmere mich um alles Weitere. Und tropf uns nicht den ganzen Teppich voll.«
Tom zog die Brauen zusammen, enttäuscht, dass er seine Frage nicht stellen durfte. Einen Moment lang murmelte er etwas in sich hinein und verschwand endlich in seinem Zimmer.
Matthieu sah ihm hinterher und wandte sich wieder seinem Besucher zu. Er lächelte. »Ich muss versuchen, ihm die rauen Kanten zu nehmen«, sagte er entschuldigend, »davon hat er einige. Immer angenommen, ich werde es nicht irgendwann leid. Er hat eine Schwäche für Frauen und eine Tendenz zur Gewalttätigkeit, und diese Mischung macht mir Sorgen. Besonders, da er noch so jung ist. Die DuMarqués scheinen aus ihren Fehlern nicht zu lernen.«
»Das muss er aber«, sagte Mr Robinson. »Er mag ja noch jung sein, aber solche Burschen wachsen auf und werden womöglich Mörder und Verbrecher. Wenn Sie sicher sind, Sie können ihn von Victoria fernhalten, bin ich beruhigt, mehr wollte ich nicht wissen. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.«
»Einen Augenblick noch«, sagte Matthieu und
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