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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Gefallen gefunden hat, und wenn sie glaubt, dass er ihre romantischen Gefühle erwidert, fürchte ich, täuscht sie sich, wie sie sich kaum mehr täuschen könnte.«
    Mrs Drakes Mund öffnete und schloss sich vor Staunen mehrfach. Sie glaubte ernsthaft, noch nie so beleidigt worden zu sein. Schon die Andeutung, ihre Tochter könne jemandem hinterherlaufen, war unerhört, und dass sie, sollte es doch so sein, überdies vom Objekt ihrer Zuneigung, zurückgewiesen wurde? Nun, das überstieg alles Denkbare.
    »Mr Robinson«, sagte sie endlich und versuchte, die Gefühle aus ihrer Stimme zu halten. »Ich bin gezwungen, Ihnen jetzt etwas Unangenehmes zu sagen, und ich muss Sie bitten, dass es diesen Raum nicht verlässt.«
    »Natürlich«, sagte er neugierig.
    »Meine Tochter hat mir sehr wenig über die Geschehnisse des gestrigen Abends erzählt, doch es gibt eines, was ich sicher weiß, und das ist, dass die beiden jungen Leute …« Sie suchte nach den richtigen Worten, voller Angst davor, sie womöglich zu finden. »… dass die beiden jungen Leute einen gemeinsamen Moment hatten«, sagte sie schließlich und schloss voller Scham die Augen.
    »Einen Moment? Ich verstehe Sie nicht. Ich weiß, die beiden haben sich unterhalten, aber …«
    »Sie sind sich nähergekommen, Mr Robinson.«
    »Nun, ich denke, dass sie einiges gemeinsam haben. Es ist nicht ungewöhnlich für zwei junge Leute, dass sie …«
    »Ach, Himmel noch mal!«, rief sie und warf die Hände in die Luft. »Sie haben sich
geküsst,
Mr Robinson. Ihr Sohn Edmund hat Victoria geküsst.«
    Er starrte sie ungläubig an und wusste nicht, was er sagen sollte. »Sie haben sich geküsst«, sagte er tonlos.
    »Ja. Das entehrt uns natürlich beide, aber es gibt keinen Grund, warum es weitergehen sollte. Edmund muss klargemacht werden, dass er sich solche Freiheiten nicht wieder herausnehmen darf. Das ist völlig unannehmbar.«
    »Sie glauben, Edmund hat sie geküsst?«, fragte Mr Robinson und versuchte, sich vorzustellen, wie so etwas hätte zustande kommen können.
    »Ja!«, rief sie. »Oh, wachen Sie endlich auf, Mr Robinson. Sie tun, als hätten Sie Ihr Leben lang geschlafen. Das ist Ihnen doch sicher keine ganz fremde Vorstellung? Sie haben diesen Jungen gezeugt, da müssen Sie doch etwas von den Lüsten wissen, von denen sich die Männer getrieben fühlen. Nach allem, was ich aus Victorias Worten schließen kann, hat er sie recht leidenschaftlich geküsst, und sie hat sich von seinen zügellosen Annäherungsversuchen befreien müssen, bevor sie in Tränen aufgelöst zurück in unsere Kabine kam.«
    »Ich verstehe«, sagte Mr Robinson, stand auf und zwang sie damit, es ebenfalls zu tun. »Falls Edmund getan hat, was Sie sagen, Mrs Drake, möchte ich mich für ihn entschuldigen und Ihnen versichern, dass es nie wieder vorkommen wird. Allerdings glaube ich, dass sich die Dinge am gestrigen Abend etwas anders zugetragen haben mögen.«
    »Nennen Sie Victoria eine Lügnerin, Mr Robinson?«
    »Nein, weil sie, wie Sie selbst so klar gesagt haben, Ihnen eigentlich nicht erzählt hat, was geschehen ist. Wie könnte sie da gelogen haben? Auf jeden Fall wissen auch Sie nichts Genaues. Wir stückeln hier nur zusammen, was Sie sich in Ihrer äußerst lebhaften Fantasie zusammenreimen.«
    »Nun, dazu ist keine große Fantasie nötig, oder? Wir sind beide Menschen von Welt. Wir wissen, was in den Köpfen der jungen Leute vorgeht.«
    »Wozu auch Ihre Tochter gehört, nicht nur Edmund.«
    »Meine Tochter ist eine Lady!«
    »Genau wie Edmund!«, dröhnte Mr Robinson wütend, der den Charakter seiner Geliebten nicht länger in den Schmutz gezogen sehen wollte.
    Mrs Drake tat einen Schritt zurück und zog überrascht die Brauen hoch.
    »Ein Gentleman, meine ich«, verbesserte er sich. »Edmund ist genauso ein Gentleman, wie Victoria eine Lady ist, und es gibt keinen Grund, warum Sie ihn für schuldiger halten als sie.«
    »Ich sehe, dass Sie diese Sache nicht angemessen betrachten«, sagte sie und grunzte wie ein hungriges Schwein, als sie die Tür öffnete und sich an ihm vorbeidrängte. »Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, sollte es noch einen solchen Vorfall geben, werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen, sondern direkt zu Kapitän Kendall gehen. Und ich werde darauf bestehen, dass Ihr sogenannter
Gentleman
von diesem Schiff entfernt wird.«
    »Mitten auf dem Atlantik?«, fragte er mit einem Lächeln.
    »Treiben Sie keine Spielchen mit mir, Mr Robinson«, fauchte sie.

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