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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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blieben kurz vor dem Gully liegen.
    Hawley nahm die Nachricht vom Tod seiner Frau ohne große Regung auf. Er dachte daran, wie er sie kennengelernt und wie sie ihn verführt hatte. Er dachte an ihre Abende im Theater und an das Gewicht der Verantwortung, das er auf seinen Schultern gefühlt und aus dem heraus er sie geheiratet hatte. Er dachte an die drei Jahre ihres gemeinsamen Lebens, konnte sich aber nicht erinnern, sie je sehr geliebt zu haben. Oh, er wusste, sie war eine absolut angenehme Person gewesen, ohne jede Böswilligkeit, und ganz sicher eine ausgezeichnete Mutter und einfühlsame Gefährtin, mit der er sein Leben hätte verbringen können. Aber Liebe? Die war nicht dabei gewesen. Und so tat er, was er tun musste, um sein Leben weiterzuführen. Er organisierte ihr Begräbnis, brachte sie unter die Erde und setzte Otto in einen Bus zu Charlottes Eltern, die sich, sehr zu seiner Erleichterung, bereit erklärt hatten, die Verantwortung für seine Erziehung zu übernehmen.
    Und so war Dr. Hawley Harvey Crippen mit achtundzwanzig Jahren wieder allein.

[zurück]
    5  Die Passagiere der
Montrose
    Atlantischer Ozean: Donnerstag, 21 . Juli 1910
    Mr John Robinson hatte nie Schwierigkeiten mit dem Schlafen gehabt, bis Anfang Februar, als die Ereignisse dafür gesorgt hatten, dass seine nächtlichen acht Stunden kaum mehr ungestört blieben. Die erste Nacht an Bord der
Montrose
war jedoch weit schlimmer, ja, fast unerträglich. Edmund und er hatten schließlich gegen elf Uhr voneinander abgelassen, Edmund war nach oben geklettert und augenblicklich eingeschlafen. Mr Robinson auf dem unteren Bett hatte hingegen wach gelegen. Es war so warm in der Kabine, dass er alle Decken zur Seite schob und ohne sie zu schlafen versuchte. Die Erste-Klasse-Kabinen waren angenehm groß, nur die Präsidentensuite, deren Bewohner sie noch nicht kennengelernt hatten, war größer, aber die Luft war fürchterlich stickig, und er schwor sich, das Bullauge ab sofort den ganzen Tag offen zu lassen. Das Schwanken des Schiffes machte alles noch unangenehmer, und als er schließlich einnickte, war es nach zwei Uhr morgens. Mr Robinson träumte, er tanzte oben auf dem Rand des höchsten Wolkenkratzers der Welt, mit Rollschuhen, und vermochte kaum das Gleichgewicht zu halten. Als er schließlich ausrutschte und auf den Verkehr unten auf der Straße zustürzte, schreckte er schweißnass aus dem Schlaf hoch und griff nach der Taschenuhr auf dem Nachttisch neben sich, um zu sehen, wie spät es war. Drei Uhr dreißig. Er seufzte erschöpft, wischte sich über das Gesicht und versuchte, sich von den schlimmen Erinnerungen zu befreien, die vor seinen Augen aufflimmerten. Danach schlief er nur noch in unruhigen Intervallen, stand kurz nach sieben leise auf, um Edmund nicht zu wecken, und wusch sich in dem kleinen Bad. Seine Augenlider schienen vor Erschöpfung aneinanderzukleben, aber er dachte, eine kleine Runde an Deck in der frischen Morgenluft würde ihn schon zurück ins Leben holen. Er zog den Anzug vom Vortag an, band sich die Krawatte um und verließ die Kabine. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu und ging zum Aufgang hinüber.
    Es war ein heller, warmer Morgen an diesem ersten Tag, und der blaue Himmel und das glitzernde Meer heiterten seine Laune auf. Die Sonne fing sich in den gegen den Schiffsrumpf schlagenden Wellen, und die Gischt erstrahlte in ihrem Licht. Seevögel schrien, stießen ins Wasser und genossen ihr Frühstück. Mr Robinson trat an die Reling und sah in die Tiefe. Er beugte sich gerade so weit vor, dass ihm hin und wieder etwas von der Gischt ins Gesicht sprühte. Wenn er die Augen etwas zusammenkniff, konnte er die dunklen Fischschwärme erkennen, die das Schiff auf seiner Reise begleiteten. Ihre Geschwindigkeit überraschte ihn, sie schienen mühelos mit der
Montrose
mithalten zu können, die doch mit wenigstens zehn, elf Knoten unterwegs sein musste. Mit einer guten Harpune, dachte er, könnte er einige von ihnen töten.
    Trotz der frühen Stunde waren bereits etliche Leute an Deck, Passagiere wie er, die ihre erste Nacht auf See eher unruhig verbracht hatten. Billy Carter, der Erste Offizier, war die frühen Spaziergänger gewöhnt, obwohl an diesem Morgen, als er aus dem Fenster der Brücke sah, ein paar mehr als sonst unterwegs waren. Sein Blick fiel auf zwei sich unterhaltende, rauchende Seeleute, und er rief sie zu sich und trug ihnen auf, was er morgens immer als Erstes befahl, wobei niemand besonders

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