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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ganz leicht die gemalten Brauen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fütterte ihn praktisch mit der Antwort, die sie hören wollte. Und dann fuhr sie ganz unversehens die Zunge heraus, wie eine Echse, und holte sich den Klecks Butter, so als hätte sie ihn bewusst für diesen Moment auf ihrem Kinn abgelegt.
    »Ich bin sicher, dass er das tut«, sagte Carter und spürte überrascht, wie sich sein Magen kurz zusammenzog. »Soll ich es arrangieren, dass Sie beide einen Abend an seinem Tisch sitzen?«
    »Für mich selbst würde ich nie darum bitten«, antwortete Mrs Drake schnell und schüttelte den Kopf. »Ich nehme meine Mahlzeiten ein, wo immer man sie mir serviert. Ich bin absolut nicht wählerisch. Aber wenn Sie es für Victoria tun könnten, wäre das ganz wundervoll. Das wäre sehr nett von Ihnen.« Ihre Meinung über ihn wandelte sich bereits wieder. »Wirklich, sehr nett.«
    »Kein Problem«, sagte er und schlang sein Essen hinunter, um möglichst schnell fliehen zu können.
    »Wo ist das Mädchen überhaupt?«, fragte Mrs Drake einen Moment später und blickte verärgert zur Tür hinüber. »Sie weiß, dass ich es nicht mag, wenn sie mich warten lässt. Sie wird noch ihr Frühstück verpassen. Wenn ich zurück in die Kabine komme, und sie liegt noch im Bett, gibt es Ärger, Mr Carter. Das kann ich Ihnen versichern.«
    Mrs Drake hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn Victoria lag längst nicht mehr im Bett. Sie war nur Augenblicke, nachdem ihre Mutter die Kabine verlassen hatte, aufgestanden, hatte zwanzig Minuten im Bad verbracht, sich gewaschen, das Haar gebürstet und etwas aus den kleinen Make-up-Töpfchen aufgetragen, die sie vor Wochen in Paris gekauft hatte. Als sie das Bullauge öffnete und die warme Sonne und die frische Luft spürte, beschloss sie, sich weniger förmlich anzuziehen als am Vortag, und wählte eine helle schulterfreie Bluse und dazu einen langen dunkelblauen Rock. Sie steckte den Kopf aus der Kabinentür und blickte den Gang hinauf und hinunter, um sich zu versichern, dass sie niemand sah, bevor sie zur Kabine A 4 hinüberhuschte. Sie legte das Ohr an die Tür und blinzelte dabei leicht, als könnte sie so besser hören. Es dauerte einen Augenblick, dann vernahm sie drinnen eine Bewegung. Sie rannte mit klopfendem Herzen zurück in ihre eigene Kabine, ließ die Tür einen Spaltbreit auf und wartete. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand sie da, lauschte und musste noch zehn Minuten warten, bis sie hörte, wie sich die Tür am anderen Ende des Ganges öffnete, woraufhin auch sie nach draußen trat und ihre Tür laut hinter sich zuschlug.
    »Oh, guten Morgen«, sagte Edmund und sah in ihre Richtung. »Victoria, richtig?«
    »Ja«, sagte sie gereizt, als versuchte er, sie in Verlegenheit zu bringen, indem er ihren Namen nicht mehr sicher wusste. »Und Sie sind Edward, richtig?«
    »Genau. Wie geht’s Ihnen heute Morgen?«
    Sie sah ihn spöttisch an. »Heißen Sie jetzt Edward oder Edmund?«, fragte sie nach eine kurzen Pause.
    »Oh! Ed …
mund«
, sagte er nach einer Pause, und ihm stieg etwas Farbe in die Wangen. »Haben Sie das nicht gesagt?«
    »Nun, Sie klingen nicht so sicher«, sagte Victoria. »Kennen Sie denn Ihren eigenen Namen nicht? Und nein, ich habe ›Edward‹ gesagt.«
    »Warum, wenn Sie doch wussten, dass ich nicht so heiße?«
    Victoria sah ihn an und ging auf seine Frage nicht weiter ein. »Gehen Sie frühstücken?«, fragte sie. Edmund nickte. »Wo ist Ihr Vater? Schläft er noch?«
    »Er ist vor einer Stunde oder so schon aufgestanden. Ich glaube, er konnte nicht richtig schlafen.«
    »Mutter auch nicht. Die
Alten«
, sagte sie abschätzig.
    Das Hauptdeck lag im hellen Sonnenlicht, und Victoria nutzte die Gelegenheit, Edmund genau zu betrachten. Er war nicht so groß wie einige der Beaus, die sie bereits verführt hatte, höchstens einen Meter siebzig vielleicht, aber sie hatte selten einen Jungen mit so feiner Haut und so schönen Augen gesehen. Sein Haar war etwas länger, als es der üblichen Mode entsprach, es war pechschwarz, fein und doch kräftig. Er trug eine Mütze, und sie spürte den überwältigenden Drang, sie ihm vom Kopf zu ziehen und mit den Fingern durch seinen glänzenden Schopf zu fahren. Und seine Lippen! Kirschrot und voll. Sie flehten förmlich darum, geküsst zu werden. Als seine Zunge kurz zwischen ihnen auftauchte, wurden ihr einen Moment lang die Knie weich. Selbst die dünne Narbe, die sich von seiner Nase über

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