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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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die Lippe zog, wirkte anziehend. Victorias Herz tat einen leichten Sprung, und sie zwang sich, nach vorn zu sehen, damit er sie nicht dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte.
    »Da ist ja Miss Hayes«, sagte Edmund und deutete zur Reling hinüber, wo Martha Hayes fast an der gleichen Stelle stand wie am Abend zuvor. »Sollen wir Hallo sagen?«
    Victoria seufzte. Wenn es auch unmöglich war, dass sich Edmund für eine Frau im Alter von Miss Hayes interessierte, die schließlich fast dreißig war, ärgerte es Victoria doch, dass er lieber mit ihr sprechen wollte, als mit einer Schönheit wie ihr allein zu sein. Wahrscheinlich ist das nur ein Trick, um mich zappeln zu lassen, dachte sie. Er tut so, als wäre er schwer herumzukriegen.
    »Miss Hayes!«, rief Edmund, als sie zu ihr traten, und die ältere Frau wandte sich um und lächelte. »Oh, hallo, Kinder«, sagte sie, steckte das Medaillon, das sie in der Hand gehalten hatte, in die Tasche und ließ sie zuschnappen. »Wie schön, euch zu sehen.«
    Kinder!, dachte Victoria verärgert. Was fällt denn der ein! Wir sind beide fast achtzehn!
    »Sie waren doch nicht die ganze Nacht hier draußen?«, fragte Edmund mit einem Lächeln. »Ich meine, Sie sind nicht gleich wieder hochgekommen, nachdem wir alle nach unten gegangen waren?«
    »O nein«, sagte sie lachend. »Nein. Ich habe mich hingelegt, kaum dass ich in meiner Kabine war, das versichere ich euch. Ich bin erst vor einem Moment hier heraufgekommen. Wie ist das Frühstück, Victoria?«, fragte sie. »Gut oder ekelhaft?«
    »Ich habe noch nicht gefrühstückt,
Miss
Hayes«, antwortete Victoria und hielt es für sehr vorwitzig, dass die Frau sie mit ihrem Vornamen ansprach. »Ich bin auch gerade erst heraufgekommen.«
    »Ach ja? Ich hätte schwören können, dich schon draußen auf dem Gang gesehen zu haben.«
    »Mich?«, fragte Victoria überrascht.
    »Ich dachte, du wolltest Mr Robinson und seinen Sohn einladen, dich zu begleiten. Habe ich dich nicht vor ihrer Kabine gesehen?«
    Victoria schnappte nach Luft, sie wollte die Feststellung mit einem Lachen abtun und hätte die Frau doch am liebsten geschlagen. Sie spürte, wie Edmund sie gespannt ansah, und wurde rot. »Ganz bestimmt nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Was für eine komische Idee.«
    »Vor unserer Kabine?«, fragte Edmund und überhörte, dass sie es abstritt. »Warum das denn bloß?«
    »Ich war nicht mal in der Nähe«, antwortete Victoria, und ihre Stimme wurde etwas tiefer, während sie das Thema zu beenden versuchte. »Das muss einer der Passagiere vom Zwischendeck gewesen sein, die sich an Orten herumtreiben, wo sie nichts zu suchen haben. Wir sollten mit dem Kapitän reden. Das sind Diebe, zumindest die meisten. Und Zigeuner.«
    »Ja, so muss es gewesen sein«, sagte Miss Hayes. »Mit denen bist du leicht zu verwechseln. Ihr jungen Mädchen seht euch so ähnlich. Das ist die Mode, vermute ich.«
    Victoria starrte Miss Hayes giftig an. Wer ist diese schreckliche Frau?, dachte sie. Warum macht sie uns ständig Schwierigkeiten?
    »Möchten Sie mit uns frühstücken, Miss Hayes?«, fragte Edmund, und Victoria seufzte wieder.
    Kapitän Kendall persönlich hielt ihnen die Tür zum Speisesaal auf. Er hatte gerade selbst gefrühstückt, allerdings in der Küche, da er nicht in der Stimmung für frühmorgendliche Unterhaltungen war. Jetzt trat er hinaus an Deck und sog die frische Luft tief in seine Lungen. Ein schöner Morgen. Er ließ den Blick schweifen und sah zwei seiner besten jungen Männer, die Wasser über die Reling kippten, nicht ins Meer, sondern an der Schiffswand hinunter. Neugierig ging er zu ihnen hinüber.
    »Was geht hier vor, Männer?«, fragte er verwirrt. »Was um alles in der Welt tun Sie da?«
    »Der neue Erste Offizier«, erklärte einer von ihnen. »Der hat gesagt, wir sollen das tun.«
    »Eimerweise Wasser über Bord zu kippen? Warum das denn?«
    »Er sagte, einige Passagiere hätten sich über die Reling erbrochen, und wir sollten es wegwaschen. Würde sonst einen schlechten Eindruck machen, meinte er.«
    Kendall sah den Mann an und warf einen Blick über die Reling. Er konnte nichts erkennen. »Lächerlich«, sagte er. »Hören Sie sofort damit auf. Das Meer wird wegwaschen, was weggewaschen werden muss. Kümmern Sie sich um Ihre eigentlichen Pflichten.«
    »Ja, Sir«, antworteten die beiden wie aus einem Mund, froh, von ihrer Aufgabe befreit zu sein. Schon eilten sie mit ihren Eimern davon.
    Kendall schüttelte mürrisch

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