Der freundliche Mr Crippen | Roman
der Mann, setzte sich neben ihn und ließ den Blick zerstreut über das Deck gleiten. »Ich habe nur nach dir gesucht, das ist alles. Als ich dich nicht finden konnte, hatte ich schon Angst, du wärst über Bord gegangen. Stell dir den Verlust vor.«
Tom runzelte die Stirn. Der Humor seines Onkels war für ihn manchmal schwer zu verstehen. »Ich sitze hier und überlege, was ich machen könnte«, sagte er nach einer Weile. »Das wird wohl die trübsinnigste Reise, die ich je gemacht habe. Wahrscheinlich sterbe ich vor Langweile. Dann kannst du mich gleich hier auf See bestatten.«
»Versprochen«, sagte Matthieu und nickte. »Ich persönlich finde es sehr entspannend. Elf Tage auf dem Atlantik, ohne dass man sich irgendwelche Sorgen machen muss. Keiner, der mich mit seinen Geschäftsproblemen stört, ausgezeichnet untergebracht, gutes Essen, angenehme Gesellschaft. Ich glaube, ich würde es hier noch ein paar Wochen aushalten. Das ist die beste Art des Reisens.«
»Ja, aber du bist alt«, erklärte Tom. »Du brauchst die Erholung. Ich bin jung und langweile mich zu Tode.«
»Soso«, antwortete der Onkel wenig beeindruckt. Für den flüchtigen Betrachter war Matthieu Zéla ein Mann, der auf die Fünfzig zuging. Trotz seines schütter werdenden grauen Haars hatte er mit seinen eins fünfundachtzig bereits die Aufmerksamkeit einiger Damen an Bord auf sich gezogen, ohne es zu bemerken. Seine schlanke Figur und die elegante Kleidung, verbunden mit dem Umstand, dass er sich die teuerste Kabine an Bord leisten konnte, machten ihn besonders für die Alleinstehenden unter ihnen interessant. Zudem war er Witwer und reiste ohne weibliche Begleitung, was ihn noch attraktiver machte … und zu einer offenbar ausgezeichneten Partie. »Vielleicht solltest du es mit einem Buch versuchen«, schlug er seinem Neffen vor. »Den Verstand ein wenig weiten. Was hast du in letzter Zeit so gelesen?«
Tom überlegte. Obwohl er umgeben von Literatur groß geworden war, hatte er nie eine intensivere Beziehung zu ihr entwickelt. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter einmal ein Buch mit dem Titel
Der Mann mit der eisernen Maske
gelesen hatte, damals war er elf gewesen, und er erwähnte es.
»Ah«, sagte Matthieu glücklich, »Dumas. Eine ausgezeichnete Wahl. Perfekt für den jugendlichen Geist. Abenteuer, Geschichte, Spannung. Alles, was ein Roman haben sollte. Ich bin sicher, an Bord gibt es eine Bibliothek. Vielleicht können wir später einen Blick hineinwerfen und etwas Passendes für dich aussuchen. Dann geht die Reise schneller vorbei. Ich selbst bin fast nie ohne Buch. Habe ich dir erzählt, dass ich einmal in Covent Garden bei einer Lesung von Mr Charles Dickens war?«
»Wo ist das?«, fragte Tom, der nie in England gewesen war.
»In London, mein Junge! London!«, antwortete Matthieu. »Erstaunlich, wie wenig die Jugend heute weiß.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du solltest ein paar von Mr Dickens’ Romanen lesen. Viele von ihnen handeln von Waisen wie dir.«
Tom legte die Stirn in Falten. Wieso muss er das so sagen?, dachte er. Wenn er eines über diesen Monsieur Zéla gelernt hatte, dann, dass er offen alles aussprach, ohne sich über mögliche Befindlichkeiten Gedanken zu machen.
»Was geschieht mit diesen Waisen?«, fragte er.
»Nachdem ihre Eltern gestorben sind, müssen die meisten von ihnen feststellen, dass ihre neuen Vormunde, oft ältere Männer, grausam sind und sie missbrauchen. Sie geben ihnen nichts zu essen, schlagen sie und machen ihr Leben zu einer solchen Tortur, dass die Geschundenen weglaufen, mit kaum mehr als einem Paar Schuhe an den Füßen. Am Ende jedoch triumphieren sie. Wie ist übrigens dein Bett? Hast du gut geschlafen?«
In diesem Augenblick rollte ein Ball vor sie hin. Er kam von der anderen Seite des Schiffes, wo ein paar Kinder Tennis spielten, ziemlich vorsichtig, um die Bälle nicht ins Meer zu schlagen. Matthieu drehte sich zu ihnen um, während Tom den Ball bereits in Händen hielt und ins Wasser warf, wo er mit einem fernen Plopp landete. Kichernd ließ er sich in seinen Liegestuhl zurücksinken, verschränkte die Arme vor der Brust und tat so, als schliefe er. Matthieu starrte ihn völlig perplex an.
Zwei kleine Kinder kamen herbeigelaufen und suchten das Deck verzweifelt nach ihrem Ball ab.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte das jüngere, ein höfliches kleines Mädchen mit Ringellocken und grünen Augen. Es trug für die Tageszeit ein sehr förmliches Kleidchen.
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