Der freundliche Mr Crippen | Roman
den Kopf. »Erbrochenes wegwaschen«, sagte er leise für sich und vermisste seinen alten Freund umso mehr. »Kapitän Bligh hätte
ihn
weggewaschen. Oh, Mr Sorenson«, seufzte er in den Wind, »wen haben die mir da bloß ins Boot gesetzt?«
Achtzig Liegestühle standen auf dem Erste-Klasse-Deck der SS
Montrose,
das für die übrigen Passagiere gesperrt war, und etwa ein Drittel von ihnen war am späteren Nachmittag besetzt, während die Sonne immer noch auf das Schiff niederbrannte. Einige der Reisenden zogen es vor, sich in ihren Kabinen auszuruhen, einige dösten im Sonnenschein oder lasen ein Buch, andere spielten im Freizeitraum Karten. Auf dem Zwischendeck rannten Kinder ausgelassen hin und her, sie spielten Fangen, rauften miteinander und hatten Unfug im Sinn, während ihre Eltern rauchten und freundlich miteinander schwatzten. Männer wie Frauen trugen Sonnenhüte, einige Damen spazierten auch unter einem Sonnenschirm dahin, auf der Suche nach Ablenkung. Wer saß, blieb meist für sich; hier und da wurden erste Bekanntschaften geschlossen, einzelne Paare suchten Kontakt zu anderen, aber alle schienen darauf zu achten, nicht für die nächsten neun Tage mit Langweilern zusammenzugeraten. Ganz hinten an Deck saß ein etwa vierzehnjähriger Junge, beugte sich auf seinem Stuhl vor und blinzelte ins Sonnenlicht. Sein Gesicht war bereits gebräunt, seine Haut von der Art, die schnell Farbe annahm. Aber der Junge schwitzte, während er dort saß, und schob sich immer wieder die Haare aus den Augen. Er wünschte, er hätte sie sich vor der Abreise in Antwerpen noch schneiden lassen, da sie ihm mittlerweile ziemlich auf die Nerven gingen. Er überdachte die letzten Monate und wunderte sich erneut, dass er nun auf diesem Schiff saß. Es kam ihm so vor, als hätte ihm jemand sein Leben weggenommen und er müsste sich in ein neues fügen.
Es war seine erste Seereise, und sie fand unter unglücklichen Umständen statt. Er war gerade sechs Monate alt gewesen war, da war sein Vater im Burenkrieg gefallen, und vor ein paar Monaten war seine Mutter, eine Französin namens Céline de Fredi, an Tuberkulose gestorben. Sie hatten in verschiedenen Städten Europas gelebt, und Tom, so hieß der Junge, vermochte sich in mehreren Sprachen zu verständigen. Sein einziger überlebender Verwandter war der Onkel seines verstorbenen Vaters, dem Céline kurz vor ihrem Tod einen Brief geschrieben hatte. Darin hatte sie ihn gebeten, sich um ihren Jungen zu kümmern, sollte ihr etwas zustoßen. Toms Großonkel hatte dem zugestimmt und war in der Woche vor ihrem Tod nach Paris gekommen, wo Céline ihm gestand, wie mühevoll seine neue Aufgabe werden konnte: Tom war ein schwieriger Junge, vor allem draußen auf den Straßen der Stadt, und machte seiner Mutter immer wieder aufs Neue Sorgen. Da sein neuer Vormund keine Erfahrung mit Kindern hatte, wusste sie nicht, ob er mit Tom fertigwerden würde, aber es gab sonst niemanden, dem sie ihren Sohn hätte anvertrauen können. Außer dem Onkel bliebe nur das Waisenhaus, und wenn sie das wählte, war es ihrer Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis Tom von einem Gefängnis ins andere wanderte. Nach ihrem Tod waren Tom und sein Großonkel noch einen Monat in Paris geblieben, um Célines Angelegenheiten zu regeln, und dann nach Antwerpen gefahren, wo der Onkel lebte. Jetzt riefen den Onkel Geschäfte nach Kanada, er hatte es passend gefunden, sich von der
Montrose
dorthin bringen zu lassen, und die teuerste Kabine – die Präsidentensuite – gebucht.
Es gab an Bord nicht viele Jungen in Toms Alter, und er freute sich nicht gerade auf weitere neun Tage Langweile in Gesellschaft seines Onkels. Er vermisste seine Pariser Freunde, auch wenn die es gewesen waren, die ihn im letzten Jahr auf Abwege gebracht hatten. Im Dunkel der Nacht waren sie in Häuser eingebrochen, hatten in Läden Essen gestohlen und sich als Taschendiebe geübt, obwohl keiner von ihnen das Geld wirklich gebraucht hatte. Die Erinnerung daran trug zu seiner schlechten Stimmung bei. Aber das lag jetzt alles hinter ihm, Kanada war die Zukunft. Ganz zu schweigen von seinem neuen Verwandten, an den er sich immer noch gewöhnen musste, der allerdings ein anständiger, wenn auch etwas distanzierter Herr zu sein schien.
»Da bist du ja«, erklang eine Stimme neben ihm, und er sah auf, beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte ins Sonnenlicht.
»Onkel Matthieu«, sagte er. »Was gibt’s?«
»Nichts, mein Junge«, sagte
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