Der freundliche Mr Crippen | Roman
tot. Seine Mutter ist kürzlich erst gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Martha. »Der arme Junge. Ich nehme an, unter den Umständen ist einen Tennisball ins Wasser zu werfen kein so großes Verbrechen. Er ist erst wie alt … vierzehn?«
Matthieu nickte. Die Psychologie der Jugend war nicht unbedingt sein Steckenpferd. Was ihn anging, hatte der Junge einen Verlust erlitten, er sollte den Tod seiner Mutter betrauern, ihn akzeptieren und nach vorn blicken. Er selbst hatte es in noch weit jüngeren Jahren ganz ähnlich machen müssen. Matthieus Mutter war von ihrem gewalttätigen zweiten Ehemann umgebracht worden, was ihn und seinen jüngeren Bruder zu Waisen gemacht hatte, allerdings ohne einen Vormund. Trotzdem hatten sie überlebt.
»Ich hoffe, er findet drüben in Amerika sein Glück«, sagte er nach einigem Überlegen. »Ein neuer Anfang kann etwas sehr Gesundes sein. Er ist jung, er kann sich dort eine neue Welt schaffen. Ich reise geschäftlich nach Kanada und gehe anschließend wahrscheinlich für eine Weile hinunter in die Vereinigten Staaten. Wenn alles gut geht, bleiben wir eventuell dort. Tom hat sich in Paris als nicht ganz einfach erwiesen, und ich hoffe, ich kann ihn wieder auf die richtige Bahn bringen. Immer angenommen, er dreht hier auf dem Schiff nicht durch und springt über Bord.«
»Oh, er fängt sich schon«, sagte Martha in beruhigendem Ton.
In dem Augenblick kam Tom von der anderen Seite des Decks zurück und stellte sich vor sie hin, wobei er Miss Hayes misstrauisch musterte. »Ah, Tom«, sagte Matthieu. »Lass mich dich vorstellen. Das ist mein Neffe, Miss Hayes. Tom DuMarqué.«
»Es freut mich, dich kennenzulernen, Tom«, sagte Martha und schüttelte ihm die Hand.
Tom nickte ihr zu, sagte aber nichts und stand so nahe bei den Stühlen und so weit von der Reling entfernt wie nur möglich. Er hatte, obwohl er es seinem Onkel nie eingestehen würde, schreckliche Angst vor dem Wasser, und jeder Augenblick an Bord war eine Prüfung für ihn. Er vermied jeden Gedanken an die riesige Weite des Atlantiks um sie herum und hatte beschlossen, während ihrer Reise nicht ein einziges Mal über die Reling zu blicken.
»Nun? Hast du dich entschuldigt?«, fragte Matthieu, als klar wurde, dass der Junge nichts zum Gespräch beitragen würde.
»Ja«,
rief Tom übertrieben. »Die haben da drüben etwa zwanzig Tennisbälle, und ich weiß nicht, was das ganze Theater soll.« Er sah immer noch Martha an, die sich in seiner Gegenwart unwohl zu fühlen begann. Der Junge hatte einen Ausdruck in den Augen, der ihn gefährlich und unberechenbar erscheinen ließ.
»Es war schön, Sie kennenzulernen, Monsieur Zéla«, sagte sie, stand auf und strich sich den Rock glatt.
»Matthieu, bitte.«
»Matthieu«, sagte sie. »Und dich, Tom. Aber ich denke, ich setze jetzt meinen kleinen Spaziergang fort. Ich bin sicher, wir sehen uns wieder.«
»O Gott, dein Meer ist so groß, und mein Schiff so klein«,
sagte Matthieu mit einem Lächeln und nickte ihr nach. »Was für eine charmante Frau«, sagte er leise, als sie verschwunden war. »Du hättest etwas freundlicher zu ihr sein können, Tom. Wirklich, deine Manieren sind erstaunlich ungehobelt.«
»Pffft«, kam die Antwort, ein trockenes Schnauben durch die Lippen, das einen Tropfen Speichel darauf hinterließ, bis er ihn wegwischte.
Tom hätte seiner beredten Antwort vielleicht noch mehr hinzugefügt, wäre sein Blick nicht an der Gestalt von Victoria Drake hängen geblieben, die sechs, sieben Meter entfernt von den beiden an der Reling stand und aufs Meer hinaussah. Seine Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich, und er empfand zum ersten Mal ein körperliches Verlangen. Victoria schien zu spüren, dass sie angesehen wurde, wandte sich langsam um, fing seinen Blick auf, verzog abfällig das Gesicht und sah wieder weg. Tom spürte, wie er rot wurde, und presste die Lippen fest aufeinander. Matthieu, der die Pantomime beobachtet hatte, musste schmunzeln.
»Aber, Tom«, rief er. »Du wirst ja ganz rot. Hast du dich verliebt?«
»Pffft«, kam es wieder aus ihm heraus, als wäre schon der Gedanke lächerlich. (Ja, dachte er.) Matthieu sah zum Objekt der Begierde seines Neffen hinüber und nickte. Unwillkürlich wanderte auch Toms Blick zurück zu Victoria, aber da war sie schon wieder aus dem Sichtfeld entschwunden.
»Ah«, sagte Matthieu, denn er war selbst oft in dieser Lage gewesen, »ich glaube, ich verstehe dich.«
Kapitän Kendall hatte über
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