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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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viele Jahre gelernt, dass es vernünftig war, kein zu enges Verhältnis mit der Mannschaft zu entwickeln. In seinen frühen Tagen als Kapitän hatte er sich bei seinen Offizieren und Seeleuten einzuschmeicheln versucht, weil er hoffte, ein kameradschaftliches Verhältnis würde die Atmosphäre an Bord verbessern. Aber man hatte ihn ausgenutzt, unter der Mannschaft an Bord der
Perseverance
hatte sich Selbstgefälligkeit breitgemacht, und er wurde nicht gerade als der disziplinierte Anführer betrachtet, als der ihn Bligh in der Geschichte der
Bounty
so fasziniert hatte. Als er dann das Kommando über die
Montrose
übernahm, änderte er sein Verhalten grundsätzlich. Inzwischen wurde er von seinen Männern zwar nicht unbedingt gefürchtet, aber doch geachtet, und seine Launen waren legendär. Er konnte sich einem Erste-Klasse-Passagier gegenüber völlig unterwürfig verhalten und in der nächsten Minute schon nahe daran sein, einen seiner Leute zu schlagen. Deren allgemeine Daumenregel bestand darin, seine Befehle auszuführen, ihm aber nicht zu nahezukommen. Der Einzige, der dieser Regel nicht gefolgt war, war sein blinddarmgeschädigter Erster Offizier Sorenson, und er hatte sich durch seine Speichelleckerei bei den Kollegen ziemlich unbeliebt gemacht. Dem Kapitän war durchaus bewusst, dass er der Einzige an Bord war, der Sorensons Abwesenheit bedauerte.
    Es war später Nachmittag, und Kendall saß in seiner Kabine, seine Kompasse auf blauen Karten vor sich. Er stellte auf einem Zettel ein paar schnelle Berechnungen an, kalkulierte Entfernungen nach Länge und Breite und schloss mithilfe ihrer Geschwindigkeit darauf, dass sie Kanada zum geplanten Termin erreichen würden. Es gefiel ihm zu sehen, wie gut sie vorankamen. Der klare Himmel und der leichte Rückenwind an diesem Nachmittag hatten ihnen gutgetan, und sie waren noch etwas schneller geworden, obwohl er erst vier der sechs Kessel heizen ließ. Kapitän Kendall war ein großer Anhänger der Devise, ein Schiff nicht zu überfordern, und fuhr nur selten alle Kessel mit voller Kraft. Im Gegensatz zu seinem Helden Bligh folgte er dem Fahrplan und hatte kein Interesse daran, einen Wettlauf gegen die Uhr zu gewinnen. Sie sollten am Morgen des 31 . Juli Quebec erreichen, und was ihn anging, war das alles, was zählte. Bereits am 30 . anzukommen, wäre zu protzig, und der 1 . August war eindeutig zu spät. Im Moment lagen sie bestens im Plan, und er lächelte zufrieden, lehnte sich zurück und griff nach der Zeitung, die er vor dem Ablegen noch gekauft hatte. Er warf einen Blick auf die Schlagzeilen: Es gab Schwierigkeiten wegen Streiks in der belgischen Schnapsindustrie, ein Mann, der seine Frau umgebracht und in kleine Teile zerlegt hatte, wurde gesucht, und eine wohlhabende Großmutter hatte einen achtzehnjährigen Jungen geheiratet. Kendall legte die Zeitung wieder weg. Die Dummheit dieser Welt ärgerte ihn. Deshalb war er lieber auf See.
    Er dachte an Mr Sorenson, der allein in einem Antwerpener Krankenhaus schmachtete. Dem Mann war sein Blinddarm wahrscheinlich längst entfernt worden, und er erholte sich von der Operation. Vielleicht wachte er auch jetzt gerade erst aus der Narkose auf und fragte sich, ob das Schiff ohne ihn abgefahren war, wobei er natürlich wusste, dass es nicht anders sein konnte. Kendall setzte die Mütze auf, zog sich die Uniformjacke glatt und fragte sich, ob er in den Funkraum gehen und mit dem neuen Marconi-Telegrafen seine besten Genesungswünsche an das Krankenhaus schicken sollte, entschied sich aber dagegen. Es würde schwierig sein, den Funkern zu erklären, warum er eine Weile allein sein wollte, und wenn sie herausfanden, was für eine Nachricht er geschickt hatte, unterminierte das womöglich sein sorgfältig gepflegtes Bild als strenger Zuchtmeister. Allerdings gefiel ihm der Gedanke ganz und gar nicht, Mr Sorenson könnte annehmen, er sorge sich nicht um ihn. Mit einem Kopfschütteln riss er sich aus seinen Grübeleien, trat aus der Kabine und schloss die Tür hinter sich ab.
    Von seinem Aussichtspunkt auf Deck konnte er die Gestalt Billy Carters auf der Brücke erkennen, der aufs Meer hinausdeutete und offenbar mit einem der Navigationsoffiziere herumalberte. Er hielt eine Tasse in der Hand, was der Kapitän auf der Brücke ausdrücklich untersagt hatte. Kendall ging über das Zwischendeck, wich den Kindern und ihren Eltern aus und vollführte scharfe Links- und Rechtswendungen, wann immer er ein lästiges Individuum

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