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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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»Unser Tennisball?«
    Matthieu öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und bedauerte es, so eine unschuldige Kleine anlügen zu müssen. »Es tut mir leid, ich habe ihn nicht gesehen«, sagte er.
    Das Mädchen machte schmale Augen und wollte es ihm nicht glauben. »Doch, das haben Sie«, sagte sie mit tieferer Stimme, zeigte mit dem Finger auf ihn und brach in Tränen aus. Sie musste von ihrem Bruder zum Tennisplatz zurückgebracht werden. »Sie haben ihn gestohlen!«, rief sie noch und klang wütender, als es bei einem Kind möglich schien.
    Matthieu wandte sich voller Ärger an seinen Neffen. »Tom!«, rief er. »Wie konntest du das tun? Warum hast du den Ball weggeworfen?«
    Tom zuckte grinsend mit den Schultern. Sein Streich gefiel ihm noch immer. »Ich hatte nichts Besseres zu tun«, sagte er mit ruhiger Stimme.
    »Nun, das war extrem kindisch«, schimpfte Matthieu. »Ich denke, du solltest zu den Kindern hinübergehen und dich entschuldigen. Sage ihnen meinetwegen, es war ein Versehen. Dass du ihnen den Ball zurückgeben wolltest und er dir weggerutscht ist. Aber entschuldige dich.«
    »Warum?«, fragte Tom. »Wen stört das schon?«
    »Mich«, sagte Matthieu. »Und jetzt geh. Auf der Stelle. Ich meine es ernst.«
    Tom zögerte. Die Regeln ihrer Beziehung waren noch nicht festgelegt. Wie viel Autorität Matthieu über ihn hatte, stand noch infrage. Trotz seiner vierzehn Jahre war Tom noch ein Kind und nicht so weit, sich stark genug zu fühlen, um sich den Erwachsenen zu widersetzen. Im Übrigen, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, fürchtete er doch, was geschehen würde, wenn dieser Mann, der ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal gesehen hatte, zu dem Schluss kam, dass er ein übler Kerl war und ihn im Stich ließ. Matthieu Zéla war fraglos wohlhabend und konnte ihm in seinem zukünftigen Leben helfen. Es gab keinen Grund, ihn unnötig zu vergraulen, und so entschloss er sich, dieses Mal das gescholtene Kind zu spielen. Er seufzte übertrieben, stand auf und schleppte sich über Deck, als wöge er zweihundert Pfund.
    Matthieu schüttelte den Kopf. Er hatte wenig Erfahrung mit Kindern, der Junge war ihm mehr oder weniger aufgedrängt worden, und er war sich alles andere als sicher, ob er
in loco parentis
zu handeln vermochte.
    »Es war richtig, ihm zu sagen, dass er sich entschuldigen soll«, erklang eine Stimme neben ihm, und er drehte sich um und sah die junge Dame an, die sich in den Liegestuhl neben ihm gesetzt hatte.
    »Dann haben Sie das mitbekommen?«, fragte er, und es war ihm peinlich für seinen Neffen. »Haben Sie gesehen, was er getan hat?«
    Sie nickte. »Er ist ein Junge«, sagte sie, »und ihm ist langweilig. Trotzdem war es gut, ihn hinüberzuschicken. Manieren sind wichtig.«
    Matthieu nickte und sah aufs Meer hinaus, bis er sich an die eigenen Manieren erinnerte und sich der jungen Frau zuwandte. »Entschuldigen Sie«, sagte er und streckte den Arm in ihre Richtung. »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich heiße Matthieu Zéla.«
    »Martha Hayes«, antwortete sie und schüttelte ihm die Hand.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Hayes. Stammen Sie aus Kanada oder fahren Sie zum ersten Mal hin?«
    »Ein bisschen von beidem«, sagte sie. »Ich war noch nie dort, aber ich hoffe, in Quebec eine neue Heimat zu finden. Ich habe mein ganzes Leben in Europa verbracht und es gründlich über.«
    »Ich weiß, was Sie meinen«, antwortete er lächelnd. »Ich selbst bin ein Reisender und scheine es nie sehr lange an einem Ort auszuhalten. Es gibt immer etwas, das mich zwingt, weiterzuziehen.«
    »Das muss aufregend sein.«
    »Manchmal. Aber ich würde gerne für eine Weile Wurzeln schlagen. Man wird schließlich nicht jünger.«
    »Auf mich machen Sie noch einen ziemlich schwungvollen Eindruck, Monsieur Zéla«, sagte sie und begann ihn bereits zu mögen.
    »Matthieu, bitte.«
    »Gut, aber das mit dem schwungvollen Eindruck meine ich wirklich, Matthieu«, wiederholte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. »Der äußere Anschein trügt oft«, brummte er und wechselte das Thema: »Wie gefällt Ihnen die Reise bisher? Haben Sie sich schon an das Schwanken gewöhnt?«
    »Gerade so«, sagte sie mit einem Lachen. »Es ist sehr entspannend.«
    »Genau das habe ich meinem Neffen gesagt«, sagte Matthieu, »und er schien genau
das
für das Problem zu halten.«
    »Ihr Neffe?«
    »Ja, ich bin Toms Onkel, und im Augenblick auch sein Vormund. Seine Eltern sind

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