Der freundliche Mr Crippen | Roman
sich.
»Nein«, sagte sie und wandte sich wieder Edmund zu. »Er ist mir zwar schon aufgefallen, weil er mich ständig anstarrt, aber ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
»Ich denke, da hast du einen Bewunderer«, sagte Edmund mit einem Lächeln, und sie spürte, wie sie gegen ihren Willen – und zu ihrem tiefen Erstaunen – rot wurde.
»Das glaube ich kaum«, sagte sie. »Der ist ja noch ein Kind. Er kann nicht älter als vierzehn, fünfzehn sein.«
»So viel älter bist du nun auch nicht«, sagte er. »Vielleicht könntest du eine kleine Schiffsromanze anfangen.«
Victoria schnaubte. »Nicht mit dem kleinen Jungen!«, sagte sie. »Was glaubst du eigentlich, wer ich bin? Ich gebe mich doch nicht mit Säuglingen ab! Ich habe meine Standards, weißt du, ich muss nicht im Kindergarten nach Ablenkung suchen.«
Edmund lachte. »Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte er.
»Und was ist mit dir?«, fragte sie und war bereit, etwas tiefer in seine Psyche vorzudringen. »Hast du schon ein paar lohnende Objekte an Bord gefunden, die dir gefallen?«
Er veränderte verlegen seine Sitzposition, und sie genoss es, dass ihm ihre Frage offenbar Unwohlsein bereitete. »Nein«, sagte er schroff und spielte eine weitere Karte aus. »Warum kann ich heute nur nicht gewinnen?«, fragte er mit einem Blick zum Himmel hinauf.
»Wechsle nicht das Thema, Edmund.«
»Mir war nicht bewusst, dass wir ein Thema haben.«
»Doch, das haben wir. Das romantische Liebesleben.«
»Ich dachte, wir spielen Karten.«
Sie lächelte ihn geziert an und hatte nach ein paar weiteren Runden erneut gewonnen. Edmund seufzte enttäuscht. »Ich scheine heute einfach kein Glück zu haben«, sagte er, nahm die Karten und mischte sie wieder, hielt dann inne und begann, sie zu zählen. »Es sind nur neunundvierzig«, sagte er und sah seine Mitspielerin überrascht an.
»Was sagst du?«, fragte sie unschuldig.
»Ich sagte, das Spiel besteht nur aus neunundvierzig Karten. Ich dachte mir schon, dass da etwas nicht stimmt. Es gibt keine …« Er zählte noch einmal und sah die Karten durch, bevor er heftig nickte. »Es gibt nur zwei Könige statt vier, und es fehlt auch ein Ass. Kein Wunder, dass ich nicht gewinnen kann, wenn ich auf sie rechne.«
»Oh«, sagte Victoria und tat überrascht. »Das muss ein altes Spiel sein, wir spielen seit Wochen damit. Vielleicht haben wir die Karten in unserem Zimmer in Antwerpen verloren.«
»Aha«, sagte Edmund misstrauisch und war froh, dass sie nicht um Geld gespielt hatten.
»Ich hoffe, du sagst jetzt nicht, ich hätte gemogelt«, sagte Victoria und hob die Hand an den Hals, als nehme ihr schon der Gedanke den Atem.
»Natürlich nicht«, antwortete er, obwohl er sich da nicht so sicher war. »Es ist doch nur ein Spiel. Allerdings denke ich, wir brauchen neue Karten, wenn wir weiterspielen wollen.«
Victoria überlegte. Sie fragte sich, ob sie tatsächlich den Mut hatte, ihren Plan durchzuführen. Sie hatte die drei Karten versteckt, bevor sie das Spiel mit an Deck gebracht hatte, und genau dieses Geschehen erwartet. Sie war überrascht, dass Edmund so lange gebraucht hatte, um zu bemerken, dass einige der Karten fehlten, und hatte sich bereits gefragt, ob sie wohl den ganzen Nachmittag hier draußen spielen mussten, mit zwei Königen und einem Ass zu wenig. Victoria schluckte und sagte sich, wenn sie es jetzt nicht versuchte, würde sie es niemals tun, und so machte sie sich innerlich auf eine mögliche Zurückweisung gefasst, als sie ihren ziemlich unverfrorenen Vorschlag vorbrachte. »Ich habe noch ein anderes Spiel in meiner Kabine«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Ein ganz neues. Gehen wir und holen es.«
Edmunds Augen wurden schmal. »Ich kann hier auf dich warten, wenn du magst«, sagte er. »Ich passe solange auf unsere Stühle auf.«
»Es gibt genug Stühle«, sagte sie und sah sich lachend um. »Du hast doch nichts dagegen mitzukommen? Ich möchte nicht, dass mir dieser Junge hinterherläuft.«
Edmund nickte. »Also, wenn du meinst …«, sagte er langsam. Die beiden standen auf, und Victoria griff nach Edmunds Arm. Ihr Herz schlug schneller, nachdem sie ihn da hatte, wo sie ihn haben wollte. Schnell zog sie ihn mit sich, kam an Tom DuMarqué vorbei, ohne ihm einen Blick zu schenken, führte Edmund zum Niedergang und weiter zu ihrer Kabine und war ganz durchdrungen von der Aussicht auf das, was nun kommen mochte.
Kapitän Kendall beobachtete die beiden von der Brücke aus und
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