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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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sah, das offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, um ein Gespräch anzufangen. Sie fliegen auf die Uniform, dachte er bei sich und hatte recht damit. In seiner schwarzen Kapitänstracht bot er einen schneidigen Anblick, auch wenn sich die Orden entlang der Brusttasche bei näherem Hinsehen als die verschiedenen Insignien der Canadian-Pacific-Flotte entpuppten. Verglichen mit den billigen Reisekleidern der Passagiere waren seine eher die eines Dandys. Er ließ einen kleinen Seufzer der Erleichterung hören, als er das Erste-Klasse-Deck erreichte, aber wirklich nur einen kleinen, denn die Leute hier, das wusste er, konnten noch um einiges schlimmer sein als die auf dem Zwischendeck, denn sie sahen in der Regel nicht zu ihm auf. Im Gegenteil, sie blickten nur zu oft auf ihn herab und schienen zu glauben, dass er nur knapp über einem ihrer Butler oder Bediensteten stand. Wobei er als Kapitän stets gezwungen war, ihnen gegenüber höflich zu bleiben. Im Übrigen versuchten sie alle, eine Einladung an seinen Tisch zu ergattern, und er hasste dieses allabendliche Ritual. Mr Sorenson gelang es gewöhnlich ganz gut, die Langweiler von den leidlich Unterhaltsamen zu scheiden, gegen bestimmte äußere Zwänge konnte jedoch auch er nichts tun. Die Bewohner der Präsidentensuite zum Beispiel waren auf jeden Fall einzuladen, zusammen mit einigen anderen Erste-Klasse-Passagieren. Aber jetzt, wo Mr Sorenson nicht länger die Spreu vom Weizen trennte, welche Hoffnung hatte der Kapitän da überhaupt noch, sein Essen genießen und angemessen verdauen zu können? Kendall fing einzelne Wortfetzen auf, als er auf dem Weg zur Brücke an einigen Passagieren vorbeikam, darunter den unerwarteten Kommentar eines jungen Mannes.
    »Das ist eine schicke Uniform, oder?«, sagte Edmund zu Victoria. Die beiden saßen in Liegestühlen, spielten Karten, und Edmund sah dem vorbeigehenden Kapitän hinterher. »Die Offiziere sehen sehr elegant aus.«
    »Sehr«, antwortete Victoria, die nur zu gerne ein Interesse an den anderen Männern an Bord ausdrückte, da sie hoffte, damit so etwas wie Eifersucht in ihm zu entfachen. »Hast du den Ersten Offizier gesehen? Der sieht toll aus.«
    Edmund lächelte, sagte jedoch nichts und warf eine rote Dame auf eine rote Acht. Es war bereits das vierte Romméspiel, und er hatte die ersten drei verloren, was ihn überraschte, da er sich für einen ziemlich guten Kartenspieler hielt. Er versuchte, sich zu konzentrieren, um nicht völlig an die Wand gespielt zu werden.
    »Letzte Karte«, sagte Victoria, legte die Pik-Neun vor sich hin und biss sich in Erwartung eines weiteren Sieges auf die Lippe. Als es so weit war, stieß sie einen Jauchzer aus, rief: »Gin!« und klatschte vor Freude in die Hände.
    »Vier Mal nacheinander«, sagte Edmund und schüttelte den Kopf. »Du hast eine Glückssträhne.«
    »Mutter und ich spielen ständig Karten«, gestand sie ihm. »Sag es niemandem, aber wir spielen um Geld, und sie verliert immer. Für mich ist das eine nette Aufbesserung meines Taschengelds.«
    »Eine Falschspielerin also«, antwortete er und lächelte. »Wirklich, Victoria, es überrascht mich, dass du dich so an mir schadlos hältst.«
    Sie hob eine Augenbraue und fragte sich, ob das endlich der Beginn eines kleinen Flirts mit ihr war, doch er griff bereits nach den Karten und mischte sie für ein neues Spiel. Sie seufzte und suchte das Deck nach anderen interessanten jungen Männern ab, doch es schien keine zu geben. Die
Montrose
bot nur eine höchst enttäuschende Auswahl. Für gewöhnlich gab es auf Reisen wenigstens ein Dutzend Schönlinge, die um ihre Gunst buhlten, und in den seltenen Fällen, dass sie selbst von jemandem angezogen wurde, ließ der Wettbewerb das Objekt ihrer Begierde wunschgemäß reagieren. Sie spielten weiter, und als klar wurde, dass Edmund sie mit dem Vorwurf, sie halte sich an ihm »schadlos«, keinesfalls hatte necken wollen, spürte sie, wie er sie mehr und mehr ärgerte. Und sie konnte nichts dagegen tun.
    »Kennst du den Jungen da drüben?«, fragte Edmund nach einer Weile. Obwohl er sich auf seine Karten konzentrierte und entschlossen war zu gewinnen, war ihm der junge dunkelhaarige Bursche aufgefallen, der die ganze Zeit schon aus der Entfernung zu ihnen herübersah. Victoria drehte sich um, worauf sich der Junge abwandte und aufs Meer hinausblickte. Dann wich er, offenbar erschrocken, ein paar Schritte zurück und legte die Hände auf den Schornstein hinter

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