Der freundliche Mr Crippen | Roman
erkannte sie als zwei Erste-Klasse-Passagiere, wobei ihm an Edmund, kurz bevor er ihn aus dem Blick verlor, etwas auffiel, ohne dass er hätte sagen können, was es war. Etwas Ungewöhnliches. Etwas …
»Käpt’n?«, sagte Billy Carter und unterbrach seine Gedanken.
»Ja, was denn, Mann?«, fragte Kendall gereizt und sorgte dafür, dass der junge Mann ihn überrascht ansah. Kendall schloss kurz die Augen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. »Was ist?«, wiederholte er noch einmal mit ruhigerer Stimme.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich eine Pause mache. Sie finden mich in meiner Kabine, wenn Sie mich brauchen«, sagte Carter.
»Sehr gut.«
»Auf dem Tisch drüben liegt eine Liste mit den Passagieren, die heute Abend bei Ihnen am Tisch sitzen werden.«
»Keine Nervensägen, hoffe ich, Mr Carter?«
»Außer mir nicht.«
»Außer Ihnen?«
»Ist das nicht Tradition, Sir? Dass der Erste Offizier am zweiten Tag der Reise mit am Kapitänstisch sitzt?«
War das so?, dachte Kendall. Wenn ja, war es ihm neu. Mr Sorenson aß sowieso jeden Abend mit ihm, aber das war einfach ihre Gewohnheit. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass es in diesem Zusammenhang Regeln gab. Um jedoch nicht ignorant zu erscheinen, nickte er schroff. »Das ist wohl so«, sagte er. »Und wer noch?«
»Nun, da sind Monsieur Zéla und sein Neffe, ein Tom DuMarqué.«
»Die Präsidentensuite?«
»Richtig.«
Kendall nickte. »Zéla?«, fragte er. »DuMarqué? Was sind denn das für Namen?«
»Es sind Franzosen, Sir.«
»Franzosen«, wiederholte der Kapitän entnervt. »Gott, hilf uns allen.«
»Dann ist da eine gewisse Mrs Drake mit ihrer Tochter Victoria«, fuhr Billy Carter fort. »Mrs Drake war sehr darauf aus, mit eingeladen zu werden.«
»Reich? Lästig? Kriecherisch?«
»Eine sehr angenehme Person, da bin ich sicher, Sir. Dazu habe ich Mr Robinson und seinen Sohn Edmund eingeladen sowie eine Miss Hayes. Sie alle scheinen Bekanntschaft geschlossen zu haben. Es sollte eine lebhafte Gruppe werden, Sir.«
»Ich bin ganz feucht vor Aufregung«, sagte Kendall trocken.
»Ja, Sir«, antwortete Carter nach kurzem Zögern. Die Bemerkung des Kapitäns verblüffte ihn. »Nun, wenn es sonst nichts gibt, Käpt’n, ziehe ich mich bis zum Essen zurück.«
»Nein, es gibt sonst nichts, Mr Carter. Gehen Sie nur.« Kendall sah zu, wie sein Erster Offizier die Stufen hinunterging und in der Menge auf dem Zwischendeck verschwand. Er sah auf die Uhr. Halb sechs. Zweieinhalb Stunden noch bis zu der Essenstortur mit einer oder zwei Stunden gezwungener Unterhaltung und Jovialität, bevor er schlafen gehen konnte. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn begann er, sich zu fragen, ob er wirklich für diesen Job gemacht war.
Obwohl das Abendessen jederzeit zwischen halb acht und zehn Uhr eingenommen werden konnte, lautete die Einladung für den Kapitänstisch auf acht Uhr, da das die Zeit war, zu der der Kapitän zu essen pflegte. Während Kendall vor dem Spiegel stand und seine Krawatte zurechtzog, bereiteten sich auch die übrigen Glücklichen, die sich an seinem Tisch einfinden sollten, auf jeweils unterschiedliche Weise auf das Ereignis vor, waren mehr oder weniger aufgeregt und freuten sich auf das vor ihnen liegende Essen.
In Kabine A 7 beugte sich Mrs Antoinette Drake näher zum Spiegel und hantierte mit dem Licht. Sie sah den schwachen Schimmer ihres nachgewachsenen Damenbarts auf der Oberlippe und stöhnte verzweifelt. In Antwerpen hatte sie sich einer Schönheitsbehandlung unterzogen, aber das dumme Ding in dem Salon hatte vergessen, ihr die Härchen von der Oberlippe zu entfernen. Sie griff nach ihrer Puderquaste und betupfte sich sanft damit. Für den Abend hatte Mrs Drake ein extravagantes grünes Kleid ausgesucht und dazu ein Mieder, das ihre Brüste kräftig nach oben drückte. Sie hoben sich, wenn sie einatmete, und man konnte sie praktisch diskutieren hören, welche von ihnen als Erste hervorschnellen sollte. Mrs Drake betrachtete ihr Spiegelbild und vermochte sich zu überzeugen, dass sie immer noch die sexuelle Anziehungskraft einer achtzehnjährigen Debütantin besaß.
»Victoria, versuche doch bitte, ein wenig munterer dreinzublicken«, sagte sie und fing im Spiegel den Blick ihrer Tochter auf. »Du solltest dich auf heute Abend freuen. Wie viele Mädchen in deinem Alter können schon mit einem Schiffskapitän dinieren?«
Victoria, in einem herrlichen roten Abendkleid, saß auf dem Rand ihres Bettes und starrte
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