Der freundliche Mr Crippen | Roman
erste Frau ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, ich habe da meine Erfahrungen.« Die Worte waren ausgesprochen, noch ehe er darüber nachdenken konnte, und er bedauerte gleich, etwas so Persönliches von sich erzählt zu haben.
Zum Glück reagierte sie nicht darauf. »Es war an einem Donnerstagnachmittag vor zwei Monaten«, sagte sie und wandte den Blick in die Ferne. »Ich hatte in einem Geschäft in Antwerpen das schönste Hochzeitskleid überhaupt gefunden und war so aufgeregt, dass ich dachte, ich gehe zu Léon in die Schule und erzähle es ihm. Ich kaufte ein paar Sandwiches, um mit ihm gemeinsam zu Mittag zu essen, und bin gleich zu seinem Klassenzimmer gegangen, aber dort war ein Fremder, ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Um ehrlich zu sein, hatte Léon mich noch keinem seiner Freunde und Kollegen vorgestellt, ich konnte den Mann also gar nicht kennen, genauso wenig wie er mich. Léon sagte immer, er wolle mich ganz für sich haben. Auf jeden Fall fragte mich dieser andere Lehrer, wer ich sei, und ich sagte, eine Freundin von Monsieur Brillt. Er nahm mich beiseite und erklärte mir, Léon habe vormittags in der Klasse einen Anfall erlitten, man vermute etwas mit dem Magen, und er sei gleich ins Krankenhaus gebracht worden. Natürlich war ich ganz krank vor Sorge, bin aus dem Raum gerannt und geradewegs zum Krankenhaus. Es war gar nicht so leicht, ihn aufzuspüren, aber dann fand ich ihn in einem Privatzimmer, lief hinein und war auf das Schlimmste gefasst. Oder das, was ich mir als das Schlimmste
vorstellte.
Léon lag im Bett, blass und unruhig und mit allerlei Schläuchen in sich, doch er redete, sodass ich wusste, es ging nicht um Leben und Tod. Aber als er mir den Kopf zuwandte und mich dort stehen sah, dachte ich einen Moment lang, er erlitte eine Attacke. ›Martha‹, sagte er und schluckte. Jetzt erst sah ich, dass er von sechs Kindern und einer dicken älteren Frau umgeben war, und sie alle starrten mich an und hatten nicht die leiseste Ahnung, wer ich war. Es waren seine Frau und seine Kinder. Ich wusste es sofort. Ich sah es gleich.«
»Was haben Sie da getan?«
»Das Einzige, was mir einfallen wollte. Ich habe mich umgedreht und bin davongelaufen. Ich habe Léon danach nur noch einmal gesehen, Wochen später. Da hat er mich besucht und es mir zu erklären versucht. Er sagte, er und seine Frau führten weitgehend getrennte Leben, und es gebe keinen Grund, warum wir uns nicht mehr sehen sollten. Ich war am Ende. Ich wollte mich umbringen, Mr Robinson, das wollte ich wirklich. Aber dann wachte ich eines Tages auf und dachte, dass ich mir mein Leben nicht länger von diesem Mann zerstören lassen wollte, dass ich selbst eine Zukunft hatte, auf die ich mich freuen konnte. Daraufhin habe ich alle meine Pläne über den Haufen geworfen, bin zum Hafen gegangen, habe mich nach Transatlantikpassagen erkundigt und mir ein Ticket für die Überfahrt nach Kanada gekauft, mit der
Montrose,
und deshalb sitze ich jetzt hier. Aber manchmal denke ich, hätte Léon an dem Morgen keinen Blinddarmdurchbruch erlitten, hätte es gut sein können, dass wir heute vor dem Altar stünden. Vielleicht hätte sein Betrug ewig funktioniert. Was für eine Ehe. Ein Lügengebäude.«
Sie lehnte sich zurück und sah ihn mit dem entfernten Anflug eines Lächelns an, ohne jedes Selbstmitleid.
»Es tut mir leid«, sagte er leise und wusste, dass seine Worte ihr kaum Trost spenden würden.
»Das muss es nicht«, sagte sie. »Ohne ihn geht es mir besser.«
»Trotzdem. Es ist schrecklich, einem anderen Menschen so etwas anzutun.«
Sie beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen. »Wissen Sie, was ich denke?«, sagte sie. »Léon war ein Mann, der eine Frau zu heiraten versuchte, obwohl er bereits eine hatte, und der wusste, es war ein Betrug und dass er am Ende sie und mich zugrunde richten würde. Wenn Sie mich fragen, Mr Robinson, sollten sich manche Männer gar keine Frau nehmen dürfen.«
Er wandte den Blick ab und dachte darüber nach. »Sind Sie jetzt hungrig?«, fragte er.
Matthieu lag auf seinem Bett in der Präsidentensuite und las
Der Immoralist
von André Gide. Eine der Annehmlichkeiten einer langen Reise bestand für ihn darin, ausgedehnte Zeitspannen mit nichts anderem als der Lektüre von Büchern verbringen zu können. Die wirkliche Welt war so rastlos, und das Leben so voller Trubel um Geschäfte, Geld und Romantik, dass es herzlich wenig Gelegenheit gab, eher kulturellen Neigungen zu
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