Der freundliche Mr Crippen | Roman
gutes Ende beschieden, und so hatte er nicht mehr heiraten wollen, stellte aber fest, dass er immer wieder einmal in die Falle ging. Würde sie nicht ständig auf Mr Drake verweisen, hätte er angenommen, dass seine Besucherin versuchte, selbst die nächste Madame Zéla zu werden. So aber wollte sie wohl nur mit dem reichsten Mann an Bord in Verbindung gebracht werden. Heiraten oder Geld, das waren die wichtigsten Dinge für Frauen wie sie, dachte er. Vorzugsweise beides.
»Nehmen Sie zum Beispiel Miss Hayes«, fuhr Mrs Drake fort, ohne zu merken, dass ihr Gegenüber mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. »Eine entzückende Person, wer würde daran zweifeln. Freundlich, rücksichtsvoll und eine angenehme Gesprächspartnerin. Wie schade, dass sie etwas unattraktiv ist, aber nicht jede Frau kann eine Schönheit sein. Nur einige von uns haben das Glück, mit den richtigen Genen geboren worden zu sein, und meine Familie verfügt über eine lange Ahnenreihe großer Schönheiten. Was ich über Miss Hayes sagen muss: Sie ist eine sehr angenehme Frau, das lässt sich nicht abstreiten. Aber ihre Versuche, Mr Robinson einzufangen, sind einfach, wie sollen wir sagen, ein wenig zu offensichtlich?«
»Mr Robinson?«, fragte Matthieu. »Sie meinen den Mann, mit dem wir gestern Abend gegessen haben?«
»Natürlich. Sie müssen doch bemerkt haben, was da vorging. Sie hat jedes seiner Worte geradezu aufgesaugt.«
Eigentlich war ihm nichts dergleichen aufgefallen. Als interessierter Beobachter der menschlichen Natur hatte er jeden seiner Tischgenossen genauestens studiert und sich seine Meinung über jeden Einzelnen von ihnen gebildet. Miss Hayes, nahm er an, war nicht mehr an Mr Robinson interessiert als er selbst. Sie war einfach eine freundliche Person, die sich gerne unterhielt und hoffte, der Langeweile des Alleinreisens entgegenzuwirken, indem sie unterwegs ein paar Bekanntschaften schloss. Und Mr Robinson? Matthieu konnte kaum glauben, dass dieser blasse Weichling ernsthafte weibliche Beachtung auf sich zog. Er war still, launisch, langweilig und so ganz ohne Umgangsformen. Er trug einen Backenbart mit kahl rasierter Oberlippe, was völlig veraltet war, und beim Essen hatte er unmissverständlich klargemacht, dass er lieber nicht mit eingeladen worden wäre. Seine Tischnachbarn hatte er kaum beachtet und nur einsilbig geantwortet, wenn er etwas gefragt wurde. Selbst wenn Miss Hayes auf der Suche nach einem Ehemann wäre, was er bezweifelte, würde sie sich kaum auf jemanden wie Mr John Robinson kaprizieren.
»Ich glaube, Sie tun ihr mit Ihrer Einschätzung unrecht«, sagte er.
»Denken Sie das, Matthieu?«, sagte sie, beugte sich vor und nutzte jede sich bietende Möglichkeit, seinen Vornamen auszusprechen. »Denken Sie das wirklich?«
»Ja. Ich glaube, er ist für sie nicht mehr als ein Freund.«
»Ich glaube, er ist ihre Annäherungsversuche langsam leid«, antwortete sie und schürzte die Lippen. »Der arme Mann scheint jedes Mal erschreckt davonzulaufen, wenn er mich sieht. Wahrscheinlich erwartet er Miss Hayes zwei Schritte hinter mir, wo sie, ehrlich gesagt, oft auch tatsächlich ist. Ich frage mich, ob sie nach einer Anstellung als Gesellschafterin sucht? Meinen Sie? Wenn, dann sucht sie am falschen Ort. Ich habe meine Tochter zur Gesellschaft und hatte niemals Mangel an Freunden.«
»Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte Matthieu in dem Wunsch, das Gespräch von Miss Hayes wegzubringen. »Ich hoffe, mein Neffe geht ihr nicht zu sehr auf die Nerven?«
»Ihr Neffe? Grundgütiger, nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Mrs Drake war sich der Annäherungsversuche Tom DuMarqués Victoria gegenüber durchaus bewusst, sie war nur enttäuscht, dass er gerade erst vierzehn war. Wäre er ein paar Jahre älter gewesen, hätte sie ihn angesichts seiner Abstammung als prächtige Partie für ihre Tochter betrachtet. Und auch angesichts seines potenziellen Bankkontos.
»Sie haben also selbst keine Kinder, Matthieu?«, fragte sie und sah sich nach Fotos um, die ihrer Hypothese widersprechen mochten.
»Nein, fürchte ich.«
»Aber Sie waren verheiratet?«
»Ja.«
»Aber keine Kinder?«
»Bis jetzt noch nicht«, antwortete er mit einem Lächeln. Mrs Drake starrte ihn daraufhin erwartungsvoll an, doch er vertiefte das Thema nicht.
»Wie äußerst schade«, sagte sie schließlich. »Kinder können solch ein Segen sein.«
»Victoria ist Ihr einziges Kind?«
»O ja. Zu viele Segnungen braucht man im
Weitere Kostenlose Bücher