Der freundliche Mr Crippen | Roman
von sich weg und stand auf. Er war verstört, verängstigt, von Gefühlen erfüllt, die er nicht gewohnt war. »Ich bin … Ich muss …«
»Denk an das, was ich dir gesagt habe, Robinson«, sagte Tom, drehte das Messer erneut und schnitt durch das Spiegelei auf seinem Teller. Der Dotter explodierte wie eine geplatzte Arterie, und Tom wischte mit einem Stück Schinken hindurch. »Ich warne dich kein zweites Mal. Sei froh, dass ich es überhaupt tue.«
Edmund war blass geworden, er wandte sich ab und floh aus dem Speisesaal. Seine Beine schienen ohne Kraft, ihm war übel, und er wollte nur noch zurück in die Kabine. Ihm war zum Heulen. Er hasste Gewalt und Drohungen, sie riefen zu viele schlimme Erinnerungen in ihm wach. Bisher war ihm die Sache mit Victoria Drake eher wie ein Witz vorgekommen, das Gift in Tom DuMarqués Worten ließ sie jedoch zu etwas Ernstem werden. Er streckte die Hand aus, noch bevor er an der Tür zum Gang war. Er musste hier raus, so schnell wie möglich, um wieder Luft in die Lungen zu bekommen. Wie kann ich so tun, als ob, fragte er sich, wo ich doch absolut kein Mann bin und auch nie einer sein werde?
Wie ein aus der Tiefe aufsteigender Ertrinkender saugte er die frische Seeluft in sich hinein. Flecken schwammen vor seinen Augen, und er hoffte, die Kabine zu erreichen, ehe er zusammenbrach. Nie im Leben hatte er eine solche Mischung aus Wut und Angst gespürt. Auf Deck stolperte er über ein Stück Tau, fiel in zwei vertraute Arme und schrie leise auf.
»Edmund«, sagte Mr John Robinson und starrte ihn an. »Was ist geschehen?«
»Haw…«, begann er, bevor ihm sein Fehler bewusst wurde. »Vater«, verbesserte er sich schnell, sah zwischen ihm und Martha Hayes hin und her und versuchte verzweifelt, sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Es tut mir leid. Ich fühle mich nicht ganz wohl. Ich glaube, ich lege mich noch etwas hin.«
»Vielleicht bist du hungrig?«
»Nein!«, fuhr er auf. »Ich habe gerade gefrühstückt.«
»Also gut, wie du willst«, sagte Mr Robinson und wirkte etwas perplex und besorgt. »Soll ich mit nach unten kommen?«
»Nein, ist schon gut. Ich brauche nur etwas Ruhe, das ist alles.«
»Vielleicht sollte ich dir etwas Wasser bringen, Edmund?«, fragte Martha, die bemerkte, dass der Junge noch blasser als gewöhnlich war und sich auf seiner Stirn feine Schweißperlen abzeichneten. »Es macht mir keine Mühe.«
»Wirklich, es ist schon gut«, wiederholte Edmund mit fester Stimme. »Ich muss mich einfach nur etwas ausruhen, das ist alles. Wir sehen uns später.«
Er eilte an den beiden vorbei, und sie sahen, wie er den Niedergang hinunter verschwand. John Robinson zog die Brauen zusammen und fragte sich, ob er ihm nicht doch folgen sollte.
»Er erholt sich schon wieder«, sagte Martha, als könnte sie Gedanken lesen. »Lassen Sie ihn etwas schlafen.«
»Natürlich«, antwortete er und war sicher, sie hatte recht. »Sollen wir dann also frühstücken gehen?«
»Ach, warten wir noch etwas«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter. »Ich liebe diese Morgenstimmung, Sie nicht? Setzen wir uns ein paar Minuten hin und genießen sie. Da drinnen scheint es sowieso ziemlich voll zu sein.«
Da er nicht allzu hungrig war, willigte Mr Robinson ein, und sie setzten sich in zwei Liegestühle und sahen den Seevögeln zu, die ins Wasser stießen und mit ihrer Beute davonflogen. Mr Robinson war immer noch nicht an dem Punkt, an dem er die Reise genossen hätte, Martha Hayes dagegen liebte jede Minute.
»Ich hätte mir nie vorgestellt, dass ich einmal den Atlantik überqueren würde«, sagte sie und sah mit solcher Freude und Erregung aufs Meer hinaus, dass Mr Robinson lächeln musste. »Es ist so weit entfernt von dem, was ich von meinem Leben erwartet habe, und in Antwerpen war ich so unglücklich. Heute Morgen bin ich aufgewacht und fühlte mich … nun, ich bin froh über mein neues Leben. Hier zu sitzen, macht mich glücklicher, als ich es seit Langem war.«
»Ich bin in Amerika geboren«, sagte Mr Robinson, der jetzt doch lieber in die Kabine zurückgekehrt wäre, »und ich bin froh, wieder hinzukommen.«
»Tatsächlich? Sie haben kaum einen Akzent.«
»Ich habe jahrelang in London gelebt und den Akzent wahrscheinlich irgendwann verloren. Die Reise nach Europa hat mir schon nicht gefallen, das Schifffahren liegt mir nicht so.«
»Dann bleiben Sie also in Kanada? Und kommen nie zurück?«
»In Kanada oder den Vereinigten Staaten, und ja, ich werde nie mehr
Weitere Kostenlose Bücher