Der freundliche Mr Crippen | Roman
folgen. Daher hatte er mehrere Bücher auf seine Reise nach Kanada mitgenommen. Gide wollte er lesen, seit er gewahr geworden war, dass der Papst den Autor öffentlich verdammt hatte. Solche Kritik machte ihn neugieriger auf ein Buch, als es noch die positivste Kritik in einer Zeitung gekonnt hätte. Den gegenwärtigen Papst hatte er nie kennengelernt, hatte aber von einem seiner Vorgänger den Auftrag erhalten, ein Opernhaus in Rom zu bauen. Am Ende war aus dem Projekt nichts geworden, doch er hatte lange Stunden im Vatikan verbracht, über historischen Entwürfen gebrütet und Konstruktionspläne diskutiert. So wusste er aus Erfahrung, dass der persönliche Geschmack des Vatikans und seines Oberhaupts nicht selten zum Exotischen neigte. Neben
Der Immoralist
hatte er noch Voltaires
Philosophische Briefe
dabei, Victor Hugos
Der Glöckner von Notre-Dame
und Casanovas
Memoiren.
Alle diese Bücher hatten über die Jahre einen Platz auf dem päpstlichen Index gefunden, und er wollte sie auf seiner Reise nach Kanada genießen.
Die Präsidentensuite war die größte Einzelkabine an Bord der
Montrose
und bestand aus vier Räumen: dem Hauptschlafzimmer, in dem Monsieur Zéla im Moment lag, einem kleineren Schlafraum, in dem sein Neffe Tom schlief, einem mittelgroßen Bad und einem Wohnraum, in dem man Gäste empfangen konnte. Er hatte nicht vorgehabt, während der Reise Einladungen auszusprechen (seine Bücher reichten ihm als Gesellschaft, und sein Neffe sorgte für ausreichend Zerstreuung), hatte an diesem Morgen jedoch das Pech gehabt, Mrs Antoinette Drake in die Arme zu laufen, die sich nach der Bequemlichkeit der Suite erkundigte und
ad nauseam
weiterfragte, bis klar wurde, dass sie selbst einen Blick hineinwerfen wollte. Ihm blieb kaum eine andere Wahl, als der Etikette zu folgen und sie zum Nachmittagstee einzuladen. Natürlich hatte sie seine Einladung nur zu gerne angenommen. Sie wollte um vier Uhr kommen, jetzt war es Viertel vor, und so seufzte Matthieu, denn er genoss die Beschreibungen Afrikas, dieses Kontinents, den er vor etwa zwanzig Jahren bereist hatte, und hätte sich lieber noch ein oder zwei Stunden in ihnen verloren. Aber traurigerweise rief die Pflicht, und er legte das Lesezeichen ans Ende des Kapitels und wappnete sich für die bevorstehende Tortur.
So wie Mr Robinson überquerte auch Matthieu nicht zum ersten Mal den Atlantik, und er würde es noch öfter tun. Sein ganzes Leben war er viel und weit gereist und betrachtete sich kaum als den Bürger eines speziellen Landes, so verschiedenartig waren seine Erfahrungen. In Paris geboren, war er im Alter von siebzehn Jahren mit seinem jüngeren Bruder nach England geflohen, nachdem sie zu Waisen geworden waren. Auf einem Schiff weit kleiner als die
Montrose
hatte er die große Liebe seines Lebens kennengelernt, eine gewisse Dominique Sauvet, und damit begannen seine Erwachsenenabenteuer, obwohl es mit der Liebe nichts wurde. Dafür hatte er das Glück gehabt, schon im jugendlichen Alter größere Mengen Geld zu verdienen, das er klug investierte. Er zog von Stadt zu Stadt, wann immer ihm langweilig wurde, lebte nobel bis glamourös, aber nie über seine Verhältnisse. Er war nicht sicher, wie viel er wirklich besaß, aber wann immer er eine Aufstellung zu machen versuchte, schien sein Wohlstand weiter gewachsen zu sein.
Er rasierte sich schnell und sah sich dabei kaum im Spiegel an. Er hielt nichts davon, nach Zeichen zunehmenden Alters Ausschau zu halten. Sein dunkles Haar ließ ein leichtes Ergrauen erahnen, aber das war schon seit Jahren so und schien sich nicht weiter auszubreiten, sodass es ihm kaum mehr auffiel. Matthieu Zéla war ein eleganter Mann, jemand, der aussah, als hätte er fünfzig Jahre guten, gesunden, sportlichen Lebens hinter sich. Dass eher das Gegenteil der Fall war, tat wenig zur Sache, denn das äußere Erscheinungsbild, das war ihm vor langer Zeit schon klar geworden, war der trügerischste aller menschlichen Züge.
Die Uhr im Wohnraum schlug vier Mal, und mit dem letzten Schlag setzte ein kräftiges Klopfen an der Tür ein. Er ging hinüber und machte auf, wobei er sich vorstellte, dass Mrs Drake schon seit einigen Minuten draußen gestanden und darauf gewartet hatte, dass es endlich so weit war. Der Gedanke ließ ihn lächeln.
»Mrs Drake«, sagte er und trat zurück, damit sie ihren wuchtigen Leib ungehindert durch die Türöffnung bekam. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Wie nett von Ihnen, mich einzuladen, Monsieur
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