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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Ausdruck in den Augen des Jungen, die Sehnsucht danach, von diesem Mädchen beachtet zu werden und mit ihm zusammen zu sein. Er kannte ihn von sich selbst, im Spiegel, vor vielen Jahren, als er sich in Dominique verliebt hatte. Andererseits hatte Victoria keinerlei Interesse an seinem jungen Neffen, sondern sich ihrerseits in die zarten Reize Edmund Robinsons verliebt, der, da war Matthieu absolut sicher, ihre Gefühle niemals erwidern würde.
    Denn Edmund Robinson, das war ihm schon nach einer Minute klar geworden, war eindeutig eine verkleidete Frau.
     
    Kapitän Kendall stand am Bug des Schiffes und sah mit dem Fernrohr aufs Meer hinaus, in Gedanken noch ganz bei seinen Beobachtungen der letzten Nacht. Eine Sache war klar: Mr John Robinson und der Junge, den er als seinen Sohn Edmund präsentierte, hatten sich an Deck der
Montrose
leidenschaftlich geküsst. Es hatte sich eindeutig nicht um eine liebende elterliche Umarmung gehandelt, nein, es war der Kuss eines Liebespaars gewesen, die Münder geöffnet, die Körper aneinandergedrückt. Es war abscheulich. Selbstverständlich hatte er schon von solchen Dingen gehört, für gewöhnlich in Paris, doch das machte es nicht besser. Natürlich konnten ein Mann und seine Ehefrau all die widerlichen Intimitäten austauschen, die ihre Triebe ihnen abverlangten, es wurde sogar erwartet, wenn Kinder aus der Verbindung hervorgehen sollten. Bei der Grobheit des Akts war es unvorstellbar, dass man ihn genießen konnte, doch so war der Lauf der Welt, wie er widerwillig zugab. Aber eine Liebe zwischen zwei Männern? Das war sittenwidrig. Zwischen einem Mann und einem Jungen? Ekelhaft. Was würde Mr Sorenson dazu sagen?, dachte er. Wäre er gestern Abend dabei gewesen, hätte er fraglos dafür votiert, die beiden gleich über Bord zu werfen, ohne das Boot und den Kompass, die der Verräter Fletcher Christian Kapitän William Bligh überlassen hatte. Zum ersten Mal war Kendall froh darüber, dass Mr Sorenson auf dieser Reise nicht mit an Bord war, denn ein so widerliches Verhalten hätte ihn zweifellos aufgebracht. Der Kapitän stellte ihn sich in seinem Krankenhausbett in Antwerpen vor, vielleicht in einem der lila Seidenpyjamas, die er sich auf der letzten Fahrt bei ihrem Besuch in Quebec gekauft hatte. Kendall seufzte leise.
    Es gab jedoch noch eines, was seiner Entrüstung widersprach und sie durch eine andere ersetzte. Während er den Kuss verfolgte, hatte er zunächst gedacht, Edmund wäre die Mütze vom Kopf geblasen worden, wodurch das Haar darunter hervorgequollen war. Aber natürlich war es keine Mütze gewesen, sondern eine Perücke. Er hätte nicht darauf schwören mögen, aber alles, was er gesehen hatte, deutete darauf hin, dass es sich bei Edmund Robinson um eine Frau handelte. Mein Gott, schon der Gedanke war infam! Ein unverheirateter Mann und eine Frau, die wie ein verheiratetes Paar reisten, das trotzte aller Logik und allem Anstand. Doch was war nun schlimmer: zwei Männer, die sich umarmten, eine Liebesaffäre zwischen Vater und Sohn oder eine heimliche romantische Beziehung, in der sich die Frau aus unbekannten Gründen als Junge verkleidete? Er wusste es nicht. Alle drei Möglichkeiten empörten ihn. Er brauchte Rat. Oh, Mr Sorenson, dachte er. Mein lieber Mr Sorenson! Wo sind Sie, wenn ich Sie so dringend brauche?
    »Käpt’n?« Die Stimme hinter ihm überraschte ihn, und er fuhr mit einem freudigen Lächeln herum.
    »Mr Sorenson?«
    »Äh, nein, Sir«, kam die verwirrte Antwort. »Ich bin es. Der Erste Offizier Carter.«
    »Ach ja«, sagte Kendall enttäuscht und wandte den Blick wieder den Wellen zu. »Natürlich. Das war mein Fehler, Mr Carter. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich komme mit den heutigen Hochrechnungen, Sir, wie von Ihnen gewünscht. Wir kommen gut voran, wie ich nur zu gerne berichte. Mit einem stetigen, hilfreichen Rückenwind. Die Maschinen laufen bestens, wir arbeiten mit vier der sechs Kessel. Wir könnten noch zulegen, wenn Sie wollen. Bei diesem Wetter und mit diesem Wind könnten wir Kanada einen Tag früher erreichen, wir müssten uns nur etwas ins Zeug legen.«
    Kendall schüttelte den Kopf. »Einen Tag früher oder später anzukommen, ist für mich das Gleiche, Mr Carter«, sagte er. »Die Verantwortung eines Kapitäns besteht darin, sein Schiff fahrplangemäß in den Hafen zu steuern. Wir fahren kein Wettrennen. Wir wollen das Meer nicht besiegen. Wir versuchen lediglich, unser Ziel sicher und pünktlich zu erreichen.

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