Der freundliche Mr Crippen | Roman
Leben dann auch wieder nicht. Man sollte nicht gierig sein.«
»In der Tat.«
»Vielleicht eines Tages?«, fragte sie und wollte das Thema offenbar noch nicht wechseln. Matthieu fragte sich, ob sie nicht am liebsten einfach eine Kopie seines Testaments hätte, damit sie wusste, wem er sein Geld hinterlassen wollte. Aber da musste er sie enttäuschen, er hatte nie eines gemacht. Er hatte nie einen Sinn darin gesehen.
»Vielleicht«, sagte er. »Die Zukunft ist ein wenig wie die Mona Lisa, ein Geheimnis für uns alle. Sie sagten, Sie wollten einige Zeit bei einem Verwandten in Kanada verbringen?«
»Ja, bei der Familie meiner Schwester. Ich habe sie seit vielen Jahren nicht gesehen und kann es kaum abwarten, und natürlich wird Victoria ihre Cousins kennenlernen, was spannend für sie sein sollte. Um ehrlich zu sein, Matthieu, hoffe ich sehr, dass sie in Kanada einen passenden Kavalier findet. Einige von den jungen Männern, die sie in Europa trifft, sind so primitiv, und alle scheinen vom Glück verlassen, Gott sei’s geklagt. Sie stammen aus aristokratischen Familien und können ihre Ahnen bis zu den Borgias zurückverfolgen, die meisten von ihnen, aber sagen Sie ihnen mal, sie sollen eine Restaurantrechnung bezahlen. Nicht mal das Trinkgeld können sie sich leisten! Mit leeren Taschen kommen sie daher. Das ist das Merkwürdigste an den wohlhabendsten Familien Europas: dass sie keinen Penny in der Tasche haben.«
»Nun, da wäre Edmund Robinson«, sagte Matthieu, den es interessierte, wie seine Besucherin darauf reagieren würde. »Victoria scheint ganz angetan zu sein von ihm.«
»
Sie
von
ihm?
«, rief Mrs Drake entsetzt. »Ich denke, das ist eher andersherum, Matthieu. Er lässt sie doch nicht aus den Augen. Wenn Sie mich fragen, werden sich der junge Master Robinson und Ihr Neffe auf dieser Reise noch an den Kragen gehen.«
»Ich hoffe doch sehr, dass es nicht so weit kommt.«
»Victoria ist ein schönes Mädchen.«
»Das ist sie tatsächlich, ich könnte nichts anderes sagen, aber Tom ist zu jung für sie, und Edmund …«
»Edmund ist was?«, fragte sie, bereit, beleidigt zu sein, wenn er etwas sagte, was ihre Tochter herabsetzte, wie zum Beispiel, dass er zu gut für sie sei.
»Edmund ist ihrer nicht würdig«, sagte er taktvoll. »Ich denke, Victoria braucht einen unabhängigeren Geist, der etwas reifer ist. Jemanden, der sein Leben selbst in die Hand nimmt. Wenn Sie mich fragen, ist der junge Master Robinson zu alt, um so eng mit seinem Vater zu reisen. Er sollte längst auf eigenen Beinen stehen. Und er ist so zart. Nein, Antoinette, ich glaube, Victoria wird in Kanada etwas Besseres finden als ihn.«
Mrs Drake lehnte sich zurück und trank ihren Tee. Seine Bemerkung gefiel ihr. Sie hatte sich bisher mit einem Urteil über Edmund zurückgehalten, wo sie doch eine hohe Meinung von seinem liebenswürdigen Vater hatte und nur in Bezug auf die Familie und seine finanzielle Situation unsicher war. Von Edmunds Mutter wusste sie gar nichts, und das wäre absolut notwendig, bevor sie irgendein Liebeswerben zwischen den beiden jungen Leuten erlauben würde. So entspannt in der Präsidentensuite sitzend, bedauerte sie, dass ihr Mann so grausam gewesen war, sie ihr zu verweigern, und darauf bestanden hatte, dass sie und Victoria sich mit der ersten Klasse begnügten. Es war hier weitaus bequemer, und das sagte viel über den Bewohner der Suite aus. Monsieur Zéla war eindeutig ein Gentleman, und in diesen Augenblicken stieg er in ihrer persönlichen Rangordnung zu ihrem Lieblingspassagier an Bord auf und übertraf sogar noch Mr Robinson. Dass er zufällig als Franzose auf die Welt gekommen war, konnte man ihm schließlich nicht ernsthaft vorwerfen, und sie sagte sich, er habe sie bestimmt nicht einfach nur aus freundschaftlichen Gefühlen zum Tee in seine Kabine eingeladen. Wahrscheinlich hatte er sich ein wenig in sie verliebt, aber das ging nicht, da sie eine treue Ehefrau war, die es nie auch nur in Betracht ziehen würde, sich seinen animalischen Leidenschaften hinzugeben. Trotzdem war es schön, einen Bewunderer zu haben.
Matthieu Zéla seinerseits stellte das Teegeschirr zurück auf das Sideboard. Das Gespräch über Victorias Liebesleben amüsierte ihn, waren ihm aufgrund seiner Beobachtungen am Abend zuvor doch verschiedene Dinge klar geworden. Zum einen hatte sich sein Neffe Tom bis über beide Ohren verliebt, und das wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. Er kannte den verzweifelten
Weitere Kostenlose Bücher