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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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der Kapitän gereizt. »Ich unterhalte mich nur mit meinem Ersten Offizier über das Verhalten der Passagiere, damit ich dieses Schiff so gut wie möglich befehligen kann. Es tut mir leid, wenn Sie das langweilt.«
    »Nein, Sir, ganz und gar nicht, Sir. Ich dachte nur, Sie meinten …«
    »Das wäre dann alles, Mr Carter«, sagte Kendall, gab ihm die Papiere zurück und entließ ihn mit einer Handbewegung. »Ich sehe Sie später am Abend, da bin ich sicher. Ich bin schon ganz zittrig vor Aufregung.«
    »Ja, Sir«, sagte Billy und trollte sich unglücklich. Er ging seine dreitägige gemeinsame Geschichte mit Kapitän Kendall noch einmal durch und konnte absolut nicht sagen, was zwischen ihnen schiefgegangen war. Er hatte noch nie einen so schroffen Kapitän erlebt, der für seine Offiziere nichts als Verachtung übrigzuhaben schien. Kendall kam ihm vor wie ein Mann aus den Archiven der Navy. Nur noch ein paar Wochen, dachte er. Nur noch ein paar Wochen, und ich bin wieder zu Hause und halte Billy junior auf dem Arm.
    Zwanzig Minuten später stand Kapitän Kendall vor der Kabine A 4 , der von Mr John Robinson und seinem Sohn Edmund, drückte das Ohr an die Tür und lauschte aufmerksam auf die nach außen dringenden Geräusche. Vorne am Bug war ihm ein verrückter Gedanke gekommen, ein Gedanke, der so erschreckend und unglaublich war, dass er ihn sich selbst kaum eingestehen mochte. Aber dieser Gedanke hatte ihn hergeführt, und er verfluchte die Konstrukteure des Schiffes dafür, dass sie die Türen der Erste-Klasse-Kabinen so luftdicht sicher gemacht hatten, dass er nur gedämpfte Geräusche und einzelne Satzfetzen hören konnte. Er sah den Gang hinauf und hinunter und hoffte, dass ihn niemand überraschte, bevor er Beweise für seine Vermutung fand.
    »Das ist kein Hotel«, kam eine Stimme von drinnen, die jüngere, höhere, die
Frauen
stimme. »Hier gibt es keinen Zimmerservice.«
    »Bei den Preisen sollte es den aber geben«, kam die Antwort. Dann war wieder einiges unverständlich, und Kendall kniff das Gesicht zusammen und drückte das Ohr noch etwas fester aufs Holz, entschlossen, etwas Belastendes zu erlauschen.
    »Sie ist ganz nett«, hörte er. »Besser als diese Drake.«
    »Ich glaube, sie mag dich.«
    »Die Mutter ist hinter dem Vater her, die Tochter hinter dem Sohn. Das ist doch ziemlich romantisch, oder?«
    »Nur, dass ich nicht dein Sohn bin.«
    Kendall schnappte nach Luft. Da war sie endlich, die Wahrheit. Er drückte die Hand auf den Mund, hielt den Atem an und hoffte auf mehr.
    »Und du hast heute Morgen fast meinen Namen genannt, als du Miss Hayes und mir begegnet bist. Du musst vorsichtig sein.«
    »Es tut mir leid, aber ich war nicht recht bei mir. Der junge DuMarqué hat mich im Speisesaal praktisch angegriffen.«
    »Ist schon gut, sie hat nichts gemerkt, aber pass in Zukunft besser auf.«
    »Was machen Sie denn da?« Eine Stimme auf dem Gang ließ Kapitän Kendall erschreckt herumfahren. »Warum lauschen Sie denn da an der Tür?«
    »Ich … ich …« Er wurde knallrot und war sich mehr als bewusst, dass sein silberweißer Bart, der, wie er dachte, nun einmal zu einem Kapitän zur See gehörte, seine Schamesröte noch unterstrich.
    »Warum lauschen Sie denn da an der Tür?«
    »Ich habe nicht gelauscht«, stammelte er. »Ich bin … ich bin nur vorbeigekommen und habe da drinnen ziemlich laute Geräusche gehört, und da wollte ich mich vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Aber es scheint nichts mehr zu geben.«
    Victoria nickte, ohne dass er sie überzeugt hätte. Kendall lächelte ihr kurz zu und marschierte an ihr vorbei, entschlossen, so schnell wie möglich in seine Kabine zu kommen. Das kurze Stück rannte er förmlich, stürmte durch seine Tür, schloss hinter sich ab, warf die Mütze quer durch den Raum aufs Bett und durchwühlte den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.
    »Wo ist sie, wo ist sie?«, murmelte er laut und suchte nach der Zeitung, die er am Tag ihres Aufbruchs in Antwerpen gelesen hatte. Er betete, dass Jimmy, der Schiffsjunge, sie nicht weggeworfen hatte, und wollte schon aufgeben, als er ein Eck davon ganz unten im Stapel entdeckte. Er zog sie hervor, zerriss sie dabei beinahe, fuhr mit dem Finger über die Titelseite und fand den Artikel, den er suchte. War ihm eben noch das Blut ins Gesicht geschossen, als Victoria Drake ihn überrascht hatte, so wich es jetzt ganz aus ihm. »Großer Gott«, sagte er laut. »Grundgütiger, großer Gott.« Er ließ die Zeitung

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