Der Fromme Dieb
aufgenommen werden, zerknirscht und demütig auf der Schwelle zum Chor kauernd, bis der Abt befinden würde, er habe seine üble Tat gesühnt. Vielleicht würde er sogar geläutert aus seinem alten Selbst hervortreten. Das war viel verlangt, aber manchmal geschahen Wunder.
Tutilo hockte auf seiner Pritsche und lauschte den endlosen, hysterischen Gebeten von Bruder Jerome in der Nachbarzelle.
Sie drangen gedämpft durch die Steinwand, nicht als deutliche Worte, sondern als ein immerwährendes Klagen, so schmerzerfüllt, daß Tutilo Mitleid mit dem Mann empfand, der versucht hatte, ihn zu verletzen, wenn auch nicht zu töten. Die Beharrlichkeit dieses Klagelieds machte Tutilos Ohren taub gegen das Geräusch des Schlüssels, der leise im Schloß knirschte. Und die Tür wurde, um jedes Knarren der Scharniere zu vermeiden, so behutsam geöffnet, daß er den Kopf erst umwandte, als eine gedämpfte Stimme hinter ihm »Tutilo!« sagte.
Daalny stand auf der Schwelle. Die Nacht hinter ihr schimmerte noch vom letzten Licht, das die hellen Mauern gegenüber auffingen, und von einem sanftblauen Himmel, der mit Sternen übersät war, die noch kaum sichtbar waren. Sie trat ein, eilig und ohne ein Wort, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. In der Zelle brannte eine kleine Lampe, und ein verdächtiger Lichtstrahl, der durch die Türöffnung fallen mochte, hätte sie sofort verraten. Sie betrachtete ihn und runzelte die Stirn, denn er schien ihr ein wenig in sich zusammengesunken und entmutigt. So hatte sie sich ihn nicht vorgestellt, und so wollte sie ihn auch nicht haben.
»Sprich leise«, sagte sie. »Wenn wir Jerome hören können, kann er uns auch hören. Schnell, du mußt gehen. Diesmal mußt du wirklich gehen. Es ist die letzte Chance. Morgen brechen wir auf, wir alle zusammen. Herluin wird dich zurück nach Ramsey bringen, wenn es nach ihm geht, wo dich ein schlimmeres Sklavenleben erwartet, als ich es führe.«
Tutilo erhob sich langsam von seiner Pritsche und starrte sie an. Es dauerte eine Weile, bis er sich von Bruder Jeromes besessenen Gebeten losreißen konnte und begriff, daß sich die Tür wirklich geöffnet und sie, Daalny, hereingelassen hatte und daß sie tatsächlich hier vor ihm stand, hartnäckig, greifbar, das schwarze Haar lose über ihre Schultern fallend, ihr Augen wie blauglühende stete Flammen im bleichen Oval ihres Gesichts.
»Nun geh schon«, sagte sie. »Schnell. Ich zeige dir den Weg.
Durch die Pforte zur Mühle. Geh nach Westen, nach Wales.«
»Gehen?« wiederholte Tutilo wie ein Träumer, der sich durch eine fremde und unwirkliche Welt tastete. Und plötzlich glühten seine Wangen, als hätten sie Feuer gefangen. »Nein«, sagte er. »Ohne dich gehe ich nirgendwohin.«
»Narr!« sagte sie ungeduldig. »Dir bleibt keine andere Wahl.
Wenn du dich nicht beeilst, bringen sie dich nach Ramsey und ziemlich sicher wirst du in Ketten gelegt, sobald ihr Leicester und Robert Bossus Geleitschutz hinter euch gelassen habt.
Willst du nach Ramsey zurück und in ein frühes Grab gepeitscht, ausgehungert und gequält werden? Du hättest niemals Zuflucht suchen dürfen an diesem Ort, denn er ist ein Käfig für dich. Geh nackt nach Wales, und nimm deine Stimme und dein Psalterium mit. Dort werden sie deine Gabe Gottes erkennen und dich aufnehmen. Schnell, komm, laß meine Mühen nicht umsonst gewesen sein.«
Sie hatte das Psalterium aufgenommen, das in der Ledertasche auf dem Gebetstisch lag, und ihm in die Arme gelegt. Bei der Berührung zitterte er und drückte es an sein Herz, und dabei sah er sie mit leuchtend goldenen Augen an.
Er öffnete den Mund, um, wie sie glaubte, erneut zu protestieren. Um dies zu verhindern, legte sie eine Hand auf seine Lippen und schob ihn mit der anderen verzweifelt zur Tür.
»Nein, sag nichts, geh nur. Und besser allein! Was solltest du mit einer davongelaufenen Sklavin an den Fersen anfangen, die dich nur hindert? Rémy wird mich nicht gehen lassen und das Gesetz erst recht nicht. Ich bin Sklavin, du bist frei. Tutilo, ich flehe dich an! Geh!«
Plötzlich war die federnde Kraft in seinen Körper, die strahlende Kühnheit in sein Gesicht zurückgekehrt, und er folgte ihr. Ohne zu zögern, trat er aus der Tür und in den dunklen Gang hinaus. Der Schlüssel drehte sich wieder im Schloß. Die kühle Abendluft duftete vom jungen Laubwerk ringsum. Keine Worte beim Abschied, nur beredtes Schweigen.
Sie schob ihn durch die Pforte in der Mauer aus dem Kloster
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