Der Fromme Dieb
Tür nicht nur unverriegelt, sondern stieß sie sogar sperrangelweit auf.
Daalny, die von der Treppe des Gästehauses aus ein wachsames Auge auf das Geschehen in diesem Winkel des Hofes hatte, fand diese Reaktion verständlich. Das gleiche empfand auch Cadfael, der gerade aus seinem Garten trat.
Doch in Anbetracht dieses mangelnden Erstaunens und Entsetzens seitens des Aufsehers oblag es einem anderen, diesen Mangel auszugleichen. Daalny schlüpfte rasch zurück ins Haus, um sich wieder ihren Reisevorbereitungen zu widmen und überließ es den anderen, so zu verfahren, wie sie es für richtig hielten.
»Er ist fort!« sagte Bruder Pförtner. »Aber, wie ist das möglich?«
In der Frage lag keine Empörung, der Pförtner war wirklich verwundert. Er blickte auf den großen, schweren Schlüssel auf dem Tablett und zurück zur Tür, dann zog er die buschigen, angegrauten Brauen zusammen.
»Fort?« fragte Cadfael, als wäre er tatsächlich erstaunt. »Wie kann er fort sein, wo doch die Tür verschlossen und der Schlüssel in Eurer Loge war?«
»Schaut selbst«, sagte der Pförtner. »Wenn es nicht der Teufel persönlich war, dann muß jemand anders gestern nacht den Schlüssel an sich genommen und den Gefangenen befreit und in die Welt entlassen haben. Die Zelle ist leer wie der Geldbeutel eines Armen, und das Bett ist kaum berührt. Er wird schon über alle Berge sein. Subprior Herluin wird schäumen vor Zorn, wenn er es erfährt. Er ist mit Vater Abt beim Frühstück.
Ich gehe wohl besser gleich, ihm den Appetit zu verderben.« Er schien nicht sonderlich bekümmert, aber auch nicht sonderlich begierig, die Nachricht zu überbringen.
»Ich bin gerade sowieso auf dem Weg dorthin«, sagte Cadfael, was der Wahrheit sogar recht nahe kam, weil ihm tatsächlich soeben die Idee gekommen war. »Ihr entledigt Euch des Tabletts und folgt mir dann: Ich gehe schon mal voraus und überbringe die schlechte Nachricht.«
»Ich wußte gar nicht«, sagte der Pförtner, »daß Ihr das Zeug zum Märtyrer habt. Aber geht nur voraus, mir soll es recht sein.
Ich komme dann nach. Seine Lordschaft reist gottlob heute ab, und falls Herluin Wert auf sicheren Geleitschutz legt, wäre er ein Narr, wenn er sich dieses Angebot entgehen ließe, nur um diesem gerissenen Burschen hinterherzulaufen, der noch dazu einen halben Tag Vorsprung hat. Vor dem Mittag werden wir sie alle los sein.« Damit wandte er sich ab und ging zu seiner Loge, um sich des Tabletts zu entledigen. Er zögerte, ob er den Schlüssel wieder an seinen Haken hängen sollte, nahm ihn dann aber schließlich, als Beweisstück sozusagen, mit und folgte Cadfael zum Haus des Abtes, wenn auch ohne übertriebene Hast.
Herluin nahm die Nachricht über Tutilos Verschwinden allerdings ganz anders auf. Er sprang von seinem Stuhl im Empfangszimmer des Abtes hoch, völlig kopflos über diesen Verlust, da er jetzt nicht mehr nur des Schatzes aus Shrewsbury, den er schon in seinen Händen geglaubt hatte, beraubt war, sondern noch nicht einmal an Tutilo Rache für diesen Umstand üben konnte, so daß er jetzt mit fast leeren Händen nach Ramsey zurückkehren mußte. Eine kurze Weile lang hatte es so ausgesehen, als ob die Rückkehr – auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt selbst nicht zur Gänze gewußt hatte – zu einem Triumphzug werden würde, mit großzügigen Spenden für die Wiederherstellung des Klosters und zusätzlich dem unermeßlichen Segen einer wunderwirkenden Heiligen.
Jetzt war alles dahin, und der Missetäter war ihm entschlüpft, so daß Herluin als deutlicher Versager heimkehrte, nur dürftig belohnt für seine beschwerlichen Reisen, und dann auch noch ohne den Novizen, der, obzwar gewiß nicht eben vorbildlich in seinem Verhalten, so doch hoch geschätzt ob seiner Stimme und deshalb auf eigene Weise nutzbringend war.
»Er muß verfolgt werden!« sagte Herluin, in seinem Zorn jedes Wort mit bleckenden Zähnen herauspressend. »Vater Abt, die Bewachung des Gefangenen muß außerordentlich nachlässig gewesen sein – wie sonst hätte sich ein Unbefugter des Schlüssels zu seiner Zelle bemächtigen können? Ich hätte die Sache selbst in die Hand nehmen sollen, statt sie anderen zu überlassen. Tutilo muß verfolgt und ergriffen werden. Er hat Rede und Antwort zu stehen und seine Vergehen zu sühnen.
Der Übeltäter darf nicht ungestraft davonkommen.«
Mit offensichtlichem und äußerstem Mißbehagen – ob wegen des flüchtigen Gefangenen, wegen seiner unachtsamen
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