Der Fromme Dieb
Seiten, erst weiter oben, dann weiter unten, abzusuchen. Am Boden, zwischen Heide und Gras, trat hier und da der steinige Untergrund zutage. Der Mörder hatte sich auf der Linken des Pfades versteckt, also untersuchte Cadfael zunächst diese Seite. Ein paar Schritte oberhalb der Stelle, an der die Leiche lag, und etwa eine Elle vom Wegesrand entfernt im Buschwerk entdeckte er einen Fleck freiliegenden Kalksteins, spärlich von Flechten und Gras überwuchert und allem Anschein nach seit mehr als einem Jahr unberührt; etwas an dem zuoberst liegenden Stein machte ihn dennoch stutzig und veranlaßte ihn, den Stein genauer zu untersuchen. Im Gegensatz zu den restlichen Steinen war er gänzlich frei von Flechten, Gras oder Moos und schien somit nicht zu den anderen zu gehören, obwohl er genau an einer Stelle lag, die er gewiß schon seit einem oder zwei Jahren ausfüllte. Cadfael bückte sich, nahm ihn in beide Hände und hob ihn behutsam hoch. Es hing kein einziger Halm, kein Rest von Moos daran, denn offensichtlich war er schon in jener Nacht einmal aufgenommen und wieder an seinen Platz zurückgelegt worden.
»Nein!« sagte Cadfael leise zu sich selbst. »Damit hätte ich niemals gerechnet. Daß wir es mit einer dermaßen kalt berechnenden Seele zu tun haben würden.«
»Ist das die Waffe?« fragte Hugh und starrte auf den Stein.
Er war schwer, etwa doppelt so groß wie eine Faust, die Oberseite glatt; doch als Cadfael ihn umdrehte, kam eine rauhe und blasse Fläche zum Vorschein mit ein paar spitzen Zacken, die mit einer dunklen, noch nicht ganz getrockneten Kruste versehen waren. »Das ist Blut«, sagte Hugh mit fester Stimme.
»Ja, Blut«, sagte Cadfael. »Nach vollbrachter Tat hatte der Mörder keine Eile mehr. Er hatte alle Zeit – und allen Grund – genau zu überlegen. Es geschah kalt, eiskalt und wohlbedacht.
Er legte den Stein sorgfältig an seinen alten Platz zurück, genau so wie er ihn vorgefunden hatte. Die kleinen Wurzeln, die den Stein an seinem Fleck festgehalten hatten, konnte er nicht wiederherstellen, aber wer sollte das in seinen Augen auch entdecken. Nun haben wir getan, was hier zu tun ist, Hugh. Wir müssen jetzt nur noch alles zusammenfügen und überlegen, was für ein Bursche das gewesen sein kann.«
»Wir sollten den armen Teufel fortschaffen«, sagte Hugh.
»Kann ich ihn mit ins Kloster nehmen? Ich möchte ihn mir gern noch einmal gründlicher anschauen. Ich glaube, Aldhelm hat allein gelebt, ohne Familie. Wir werden uns mit seinem Priester in Upton in Verbindung setzen. Und dieser Stein…« Er war zu schwer für Cadfael, der froh war, den Brocken vorerst einmal loszuwerden. »Nehmt den auch mit.«
Während der ganzen Zeit hatte Tutilo schweigend, aber auf jedes Wort lauschend dicht bei ihnen gestanden. Die Tränen an seinen Wimpern, die zuvor die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne eingefangen hatten, waren inzwischen getrocknet. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt.
Nachdem Hughs Leute den Leichnam Aldhelms auf die Bahre gehoben hatten und sich auf den Weg zur Vorstadt machten, schloß sich Tutilo der kleinen Prozession wie ein Trauernder an und ging schweigend, die Augen noch immer zu Boden gesenkt, hinter ihnen.
»Er wird doch nicht davonlaufen?« flüsterte Hugh Cadfael ins Ohr, als sie sich ihrerseits dem Zug anschlossen.
»Er wird nicht davonlaufen. Dafür werde ich sorgen. Er hat einem strengen Herrn zu dienen und außerdem sonst keine andere Bleibe.«
»Und was hältst du von ihm?«
»Ich will mir kein Urteil über ihn anmaßen«, sagte Cadfael.
»Ich bekomme ihn nicht ganz zu fassen. Aber es gab Zeiten, als ich das gleiche von dir hätte sagen können«, fügte er lakonisch hinzu. Er wurde sofort wieder beherzter, als er Hugh, wenn auch nur kurz und leise, lachen hörte. »Ich weiß! Das hat auf Gegenseitigkeit beruht. Aber wir wissen ja beide, was letzten Endes dabei herausgekommen ist.«
»Tutilo ist mit der Nachricht direkt zu mir gekommen«, sagte Hugh mit gedämpfter Stimme, die nur für Cadfaels Ohr bestimmt war. »Er zitterte und war erschüttert, aber bei klarem Verstand. Er hat keine Zeit verschwendet. Die Leiche sei noch warm gewesen, als lebte Aldhelm noch, nur daß kein Leben mehr in ihm war. Der Bursche hat sich ganz so verhalten, wie es ein Mann tun würde, der sich unversehens einer Mordtat gegenüber sieht. Vielleicht sogar mit mehr Bedacht, als es viele andere fertiggebracht hätten.«
»Was entweder ein Beweis für seine Rechtschaffenheit
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