Der Fromme Dieb
verlassen.«
»Niemand, von dem wir es wüßten«, sagte Cadfael. »Aber es ist nicht schwer, sich eine Weile unbemerkt zu entfernen. Es gibt Wege für jeden, der dazu die Absicht hat, hinaus- und hineinzukommen.«
Der Abt begegnete Cadfaels Blick ohne ein Lächeln; er wußte stets die Fassung zu wahren. Dennoch gab es nicht viel, was sich im Kloster abspielte, von dem Radulfus nicht wußte.
Es hatte Zeiten gegeben, da Cadfael in dringlichen Angelegenheiten, die seine Abwesenheit rechtfertigten, nachts aufgebrochen und zurückgekommen war, ohne das Pförtnerhaus zu passieren. Bei allen guten Taten, die in der Ordensregel des heiligen Benedictus aufgeführt waren, stand die Liebe zu den Menschen an zweiter Stelle, gleich nach der Liebe zu Gott, und für Cadfael war die Ordensregel wichtiger als kleinliche Vorschriften.
»Zweifelsohne sprecht Ihr aus langer Erfahrung«, sagte der Abt. »Und gewiß habt Ihr recht. Jedoch wissen wir von niemandem, daß er in jener Nacht abwesend war. Es sei denn, Ihr wißt etwas, von dem ich nichts weiß.«
»Nein, Vater, ich weiß nicht mehr als Ihr.«
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, wandte der Graf ein, »warum sollte das Orakel, das von den beiden Brüdern gesprochen hat, nicht gebeten werden, weitere Zeichen zu schicken? Sicher wird von uns erwartet, daß wir dieser Fährte folgen, so gut wir können. Nach einem Namen zu fragen, ginge wohl zu weit, aber es gibt andere Wege, etwas deutlich zu machen, wie diese gesegnete Heilige uns gezeigt hat.«
Nach und nach, fast verstohlen, hatten alle Brüder ihre Chorstühle verlassen und sich im Kreis um den Altar und die davor debattierende Gruppe aufgestellt. Sie kamen nicht zu nahe, aber doch nahe genug, um zu hören, was gesprochen wurde. Und irgendwo unter ihnen, nicht leicht auszumachen, entstand so etwas wie verzweifeltes, aber beherrschtes Unbehagen, eine Unruhe, die die Luft innerhalb des Chors beben ließ, wie vom ängstlichen Flügelschlag eines gehetzten Vogels verursacht. Cadfael spürte es, hielt es aber nur für die Ehrfurcht vor den sortes. Und das allein genügte. Ihn selbst überkam ein Unbehagen, als wäre er auf eine Folter gespannt und hätte das Schlimmste noch vor sich. Es war höchste Zeit, diesem Zustand ein Ende zu machen, und all diese überlasteten Seelen in die feuchte, eisige, heilende Luft des beginnenden Märzes hinauszuschicken.
»Wenn in gewisser Weise alle Brüder durch dieses letzte Wort angeklagt sind«, fuhr der Graf fort, »so sind sie es, die demütigeren Kinder dieses Hauses, die am ehesten das Recht haben, nach einem Namen zu fragen. Wenn Ihr es für angebracht haltet, Vater Abt, so laßt einen von ihnen um ein Urteil bitten. Wie sonst können alle übrigen entlastet werden?
Gerechtigkeit gebührt dem Unschuldigen – mehr noch als Strafe dem Schuldigen.«
Wenn er sich noch immer lustig machte, dachte Cadfael, so tat er es mit der redegewandten Würde eines Erzbischofs oder eines königlichen Richters. Ob nun im Spaß oder Ernst, ein solcher Mann würde dieses menschliche oder gar übermenschliche Geheimnis nicht ungelöst lassen wollen. Er würde sein ganzes Sinnen und Trachten darauf ausrichten, eine Lösung herbeizuführen. Und in Prior Robert, seinem Namensvetter, hatte er einen willigen Zuhörer gefunden. Jetzt da der Prior sicher war, seine Heilige zu behalten, und dazu all den Glanz, der auf ihn als ihr Entdecker und Oberführer fiel, wünschte er, alles geordnet zu beenden und daß diese lästigen Besucher aus Ramsey das Kloster verließen, bevor sie weiteres Unheil anrichten konnten.
»Vater«, sagte er schmeichlerisch. »Das scheint mir recht und billig. Sollen wir so vorgehen?«
»So sei es denn«, sprach Radulfus. »Ich lege es in Eure Hände!«
Der Prior wandte sich um und ließ den Blick über die versammelten Mönche schweifen, die ihn mit großen, erwartungsvollen Augen ansahen. Es fiel der unvermeidliche Name. Der Prior runzelte etwas die Stirn, daß er überhaupt nach seinem Getreuen suchen mußte.
»Bruder Jerome, ich bitte Euch, diese Anrufung im Namen aller durchzuführen. Tretet vor und macht die Probe.«
Ja, wo war Bruder Jerome, und warum hatte man die ganze Zeit nichts von ihm gehört und gesehen? Sonst hing er doch stets an den Rockzipfeln seines Priors, stets bereit, jedem Wort, das seinem Vorgesetzten über die Lippen kam, kriecherisch und schmeichlerisch zuzustimmen.
Jetzt erst fiel Cadfael auf, daß man die ganzen letzten Tage kaum etwas von
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