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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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hinabblickte, was das Schicksal für ihn bereithielt, suchten ihn Zweifel an seinen Verdiensten heim. Wer hätte je erwartet, die Säule des Hauses dermaßen erschüttert zu sehen?
    Sehr bald indes hatte er sich wieder gefaßt. Er neigte sein eindrucksvolles silbergraues Haupt, und eine Woge triumphierender Farbe stieg von seinem langen Hals hinauf in seine Wangen. Mit einer Stimme, zwischen Frohlocken und Ehrfurcht, trug er vor: »Johannes, Kapitel 15, Vers 16: ›Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt.‹«
    Wie ein Windstoß oder wie das Heranbranden einer Woge, die ans Ufer rollt, fuhr ein Schauer durch die Versammlung der Brüder, die mit angehaltenem Atem gewartet hatten, um dann, der Welle gleich, die zu Gischt zerstäubt, in flüsterndes, geschäftiges Murmeln überzugehen, als die Brüder sich regten, einander anstießen und, erleichtert und fast hysterisch, zwischen Lachen und Weinen schwankten. Abt Radulfus richtete sich sogleich gebieterisch auf und hob besonnen eine Hand, um dem Sturm Einhalt zu gebieten.
    »Ruhe! Achtet diesen heiligen Ort und unterwerft Euch den sortes mit der gebührenden ruhigen Fassung. Vater Prior, kommt herunter zu uns. Alles, was erforderlich war, ist geschehen.«
    Prior Robert war noch immer so geblendet, daß er auf den Stufen zu straucheln drohte; er fand jedoch rasch zu seiner vornehmen Würde zurück, und als er schließlich den Fuß auf die Steinfliesen setzte, war er wieder ganz der anmaßende, förmliche Prior. Ob aber das Erlebnis religiösen Erschauerns dauerhafte Spuren hinterlassen würde, blieb abzuwarten.
    Cadfael bezweifelte es. Auf jeden Fall aber hatte es eine eindringliche kurze Auswirkung auf Roberts Selbstgefälligkeit gehabt. Eine Weile lang würde er sehr verhalten zu Werke gehen, aus Scheu vor der Entrüstung und Nachsicht dieser kleinen walisischen Heiligen.
    »Vater«, sprach Prior Robert mit wieder bedächtiger und klangvoller Stimme. »Ich habe getreu das mir übermittelte Los vorgetragen. Nun können die sortes gedeutet werden.«
    O ja, er war wieder ganz er selbst und würde sein Haupt in diese Glorie hüllen, solange sie noch Glanz ausstrahlte. Aber wenigstens in jenen kurzen Augenblicken hatte er sich als Mensch unter Menschen gezeigt. Niemand, der es erlebt hatte, würde es vergessen.
    »Vater Abt«, sagte jetzt der Graf mit vornehmer Zurückhaltung. »Ich ziehe meinen Anspruch zurück. Ich verzichte sogar auf die Beantwortung der Frage, wieso ich hier nahe bei der Heiligen stehen kann, und doch gesagt wurde, wo sie sei, dahin könne ich nicht kommen. Ich vermute freilich, daß es da eine Geschichte gibt, die ich äußerst gern hören würde.«
    Ja, er war schnell von Begriff, wie Cadfael schon bemerkt hatte.
    Alles Widersprüchliche bereitete dem Grafen Vergnügen. »Das Feld gehört Euch, ganz und gar«, fügte Robert Bossu hinzu.
    »Ganz eindeutig hat sich die Gesegnete ohne meine oder andere Hilfe selbst hierher zurückgebracht. Und um nichts in der Welt möchte ich ihre Pläne durchkreuzen, obwohl ich stolz bin, daß sie geruht hat, mir auf ihrem Weg einen kurzen Besuch abzustatten. Mit Eurer Erlaubnis werde ich ihr als Zeichen der Anerkennung ein Geschenk darbieten.«
    »Ich denke«, sagte Radulfus, »es würde der heiligen Winifred gefallen, wenn Ihr Euer Geschenk zu ihren Ehren der Abtei von Ramsey darbötet. Wir sind alle Brüder eines einzigen Ordens.
    Auch wenn die heilige Winifred durch menschlichen Irrtum fortgeschafft wurde, wird sie das einem in Not geratenen Bruderhaus gewiß nicht zur Last legen.«
    Beide bedienten sich dieses förmlichen und zeremoniellen Vokabulars, so vermutete Cadfael, um die ersten, heiklen Augenblicke zu glätten und Prior Herluin Zeit zu geben, seinen Ärger zu meistern und einen würdevollen Rückzug antreten zu können. Er hatte die bittere Galle schon hinuntergeschluckt, auch wenn er fast daran erstickt wäre. Jetzt konnte er seine Niederlage mit geziemender Höflichkeit eingestehen. Aber nichts, nichts auf der Welt würde jetzt seinen Zorn auf den glücklosen jungen Mann besänftigen, der sicher hinter Schloß und Riegel saß, um auf seine Strafe zu warten.
    »Ich schäme mich«, sprach Herluin mit gepreßter Stimme, »für mich und für meine Abtei, daß wir auf einen so falschen Anwärter auf die Bruderschaft setzten und ihm vertrauten.
    Meine Abtei wage ich zu entschuldigen. Mich selbst nicht. Ich hätte besser gewappnet sein müssen gegen die Ränke des Satans. Blind und

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