Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
Nahrungsbeschaffung. Der Internist und Ernährungsmediziner Detlef Pape und seine Koautoren erklären: »Die Nomaden waren in körperlicher Hinsicht und von der genetischen Ausstattung her perfekt an die damaligen Umstände und die Schwankungen bei der Nährstoff-Versorgung angepasst. Doch sobald es den Nomaden gut ging und die umherziehenden Gruppen anwuchsen, gab es mehr und mehr Probleme mit dem stark schwankenden Nahrungsangebot, das ja immens vom Jagdglück abhängig war. Da der Mensch aber eine besonders lernfähige Spezies ist, entdeckte er die neue Methode, die seine Lebensweise revolutionieren sollte: Er lernte, dass das ganze Jahr über immer genug Nahrung zur Verfügung stehen konnte, wenn er Getreidesamen sammelte und gezielt aussäte. Die Ernte wurde bevorratet, so dass die Gruppe auch bei glückloser Jagd oder im Winter keinen Hunger leiden musste. So wurde der Nomade zum Ackerbauern.« [27]
Doch mit dieser Entwicklung geht sowohl eine Veränderung des Verdauungsapparates als auch des chronobiologischen Typus einher: Der Nomade aus der letzten Eiszeit vor 30 000 Jahren war darauf angewiesen, seinem Essen bis zu 30 Kilometer täglich nachzulaufen und es in kräftezehrenden Kämpfen zu erlegen. Seine Nahrungsverarbeitungsmechanismen waren wegen des unregelmäßigen Jagdglücks darauf ausgelegt, Fettdepots einzurichten, von denen bei Hunger und Nahrungsnot gezehrt werden konnte. Der Ackerbauer und Viehzüchter musste keine weiten Wege zurücklegen. Sein Körper richtete sich im Laufe der Jahrtausende auf die neue komfortable Lage ein, Haustiere schlachten oder Getreide ernten zu können. Er passte sich den Gegebenheiten an, indem er weniger Fettdepots einlagerte. Dafür aber brauchte er mehrere kleinere Mahlzeiten am Tag. Ebenso veränderte sich der chronobiologische Rhythmus des Ackerbauern: Weil seine Ernährung gesichert war, konnte er die Nacht durchschlafen. Der Nomade hingegen war oftmals auf die taktische Raffinesse angewiesen, das Wild im vermeintlichen Schutz der Nacht zu erspähen, zu überlisten und schließlich zu erlegen. Er war ein klassischer Spättyp.
Auch wenn wir nicht mehr auf die Jagd gehen und die Mehrheit der Menschen hierzulande nicht mehr auf dem Feld, sondern am Schreibtisch und vor dem Computer arbeitet, bleibt der Zusammenhang zwischen Chronotypus und Ernährung bestehen: Die Urahnen der Frühaufsteher sind die Ackerbauern. Ihr Ernährungsapparat ist auf kleinere, kohlehydratreiche Mahlzeiten eingestellt: »Die Bauchspeicheldrüse reagiert unempfindlich mit einer niedrigen Insulin-Antwort auf eine Kohlehydratmahlzeit.« [28] Die Fettspeicherung ist niedrig, der Ackerbautyp bleibt schlank. Die ernährungsgeschichtlichen Vorfahren des Spättyps hingegen sind die nachtaktiven Nomaden, deren Verdauung auf den Verzehr großer Mengen Fleisch ausgerichtet ist. Kohlehydratreiche Nahrung wie ein Teller Nudeln oder eine Pizza führt zu einer hohen Ausschüttung des Hormons Insulin und zu einer Speicherung der gewonnenen Energie – kurz: er wird fett.
Und noch eine Gefahr droht dem modernen Langschläfer: Versucht er sein durch die gesellschaftlichen Umstände verursachtes Schlafdefizit und den damit einhergehenden Energiemangel mit schnellen Schokosnacks auszugleichen, gerät er in einen bizarren Teufelskreis. Weil er Zucker bzw. Kohlehydrate nicht verträgt, reagiert sein Körper darauf mit Müdigkeit. Dieser wiederum versucht er mit weiteren kohlehydratreichen Zwischenmahlzeiten zu begegnen.
Aber auch ein anderes gesundheitsschädigendes Verhalten kommt oft zum Tragen, wenn bei Menschen die innere Uhr und die sozialen Anforderungen nicht im Gleichklang sind. Maria Lennernäs’ Studie zum Essverhalten von 96 Industriearbeitern, die in Schichten zu arbeiten gezwungen waren, erfasste auch den Konsum sogenannter Genussgifte wie Nikotin und Kaffee – mit erschreckendem Ergebnis. Alle Arbeiter waren starke Raucher, für die es üblich war, bis zu zwei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen. Zudem tranken alle weitaus mehr Kaffee als die von Ernährungswissenschaftlern empfohlene Menge von fünf Tassen pro Tag. Auffällig war auch ihr erhöhter Alkoholkonsum in der Freizeit. Vergleiche mit Arbeitergruppen, die nicht im Schichtdienst arbeiteten und deren Rhythmus folglich nicht durch äußere Anforderungen aus dem Takt gebracht war, zeigten, wie signifikant das Verhalten der untersuchten Industriearbeiter abwich, denn bei jenen entsprach die Anzahl von Rauchern und Kaffeetrinkern der
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