Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
erst um elf, damit kommt er immer am besten klar.
Auf der Straße erwartet uns nicht der tägliche Stau zur immergleichen Zeit. Ab und zu brausen ein paar Autos vorbei. Sie müssen nur kurz an der Ampel halten, weil der Verkehr eher tröpfelt als rauscht. Nur manchmal fließt der Verkehr zäh, dann nämlich, wenn eine gewisse Anzahl von Langschläfern auch für Langschläfer-Verhältnisse auf den letzten Drücker zur Firma finden. Ständige Staus und Wutanfälle aber gehören der Vergangenheit an. Und die sorgenvolle Hektik, mit der unsere Großeltern den Tag begannen, belächeln wir im Geschichtsunterricht und historischen TV-Mehrteilern, denn unsere morgendliche Geruhsamkeit führt uns in einen unverdorbenen Tag.
Da kommen auch die jugendlichen Schülerinnen und Schüler mit. Diese müssen auf dem Planeten der Eulen erst um zehn Uhr zum Unterricht erscheinen. Das verbessert ihren Notendurchschnitt erheblich. Rechtschreib- und Rechenprobleme gibt es kaum noch. Am Nachmittag werden gemeinsam Hausaufgaben gemacht und Gelerntes eingeübt. Holger Schwaennecke, der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, gibt in einem Zeitungsinterview seiner Begeisterung über das hohe Bildungsniveau des Nachwuchses und dessen Bereitschaft zur Leistung Ausdruck und lobt die allgemeine Pünktlichkeit. Denn nur wenigen misslingt es, um zehn Uhr auf der Matte zu stehen.
Im Büro zunächst das gleiche Bild, das auch schon unsere Großeltern gequält hat: Die Frühaufsteher-Community bildet einen festen Block innerhalb der Firma. Noch immer streift ihr missbilligender Blick die langsam und je nach Veranlagung und individueller Vereinbarung in Tröpfchenmanier eintrudelnden Langschläfer, die sich zum Mittagessen verabreden, um sich dort fröhlich von den schönen Dingen zu erzählen, mit denen sie den späten Vorabend verbracht haben. Sie haben ein Herz für ihre früh eintreffenden Kollegen, denn Langschläfer gönnen jedem das Seine und wissen auch: Die Frühaufsteher können nicht anders, als sich schon morgens auf verwaisten Straßen herumzutreiben, um als Erste vor Ort zu sein, die Kaffeemaschinen und Computer anzuwerfen, Akten zu sortieren, Vorarbeiten zu erledigen oder Gläser zu spülen. Ihre Natur gibt ihnen, genauso wie den Nachteulen, ihren Takt vor. Auf dem Weg nach oben stehen sich die Lerchen leider selbst ein wenig im Weg: Sie sind etwas zu unflexibel für die neue Arbeitswelt und beherrscht von der Angst vor Veränderungen. Umso wichtiger, dass man den Kollegen das Gefühl vermittelt, dass für sie in der Welt der Langschläfer selbstverständlich Platz ist, solange sie nicht wieder das Ruder übernehmen.
Die Entspannung, die den Planeten der Eulen auszeichnet, befördert die Gesundheit der Menschen allein schon durch die Entschleunigung am Morgen. Das Wissen um die Öffnungszeiten von Institutionen, Ärzten und Handel zugunsten des langschläferischen Lebenswandels befreit uns von jedem hektischen Gedanken. Ein neues Grundgesetz regelt: Bauarbeiten dürfen erst ab 10.30 Uhr beginnen – ein Meilenstein in der Geschichte der Humanität. Es gibt in dieser Welt keine Nervensägen, die um 7 Uhr morgens die Fliesen von den Wänden fräsen, keine Horden mit schwerem Schuhwerk, die die Treppen hinaufstampfen, keine Presslufthammer, die um 7.30 Uhr angeworfen werden, um kurz danach bis zur Mittagspause zu verstummen. All diese Menschen genießen in dieser Welt vernünftigerweise keine Vorherrschaft mehr.
Frühstück bis 15 Uhr ist in der Welt der Langschläfer auch außerhalb Berlins inzwischen Standard in allen Cafés, und Mittagstisch bis 19 Uhr ist die Voraussetzung zur Erlangung einer Konzession für Gastronomiebetriebe. »Guten Morgen« wünscht man sich bis zum Mittag, ohne dass irgendwer das O mit Häme auflädt und unnötig ausdehnt.
Für die Langschläfer-Fundis gibt es selbstverständlich in allen Firmen Ruheräume. Diese haben rund um die Uhr geöffnet, denn Langschläferarbeitstage enden selbstverständlich auch mal erst am späten Abend oder tief in der Nacht. Langschläfer im Büro stört es nicht, während der Arbeitszeit die Sonne am Horizont verschwinden zu sehen. Je schneller sie sinkt, desto besser. Aggressives Tageslicht schadet der Iris und verbreitet die permanente Unruhephantasie, dass es eigentlich noch viel zu früh sei. Der sich ankündigende Abend hingegen beruhigt und löst bei dem Langschläfer noch eine späte Arbeitsblüte aus, in der er ein ordentliches Stück vom
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