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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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wartete einen Augenblick, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Er begann, Umrisse zu unterscheiden, ein Bett, einen Hängeboden, einen Schrank, einen Tisch. Zwei Stühle. Einer war leer, der andere nicht. Es herrschte Stille. Unterbrochen wurde sie nur von einem einzigen Geräusch, einem regelmäßigen, langsamen Tropfen. Er tat einen weiteren Schritt nach vorn; nun war das Profil der Person auf dem Stuhl zu erkennen. Eine Frau saß dort aufrecht und unbeweglich, mit dem Gesicht zur Wand. Irgendetwas an ihrer Haltung bereitete ihm eine Gänsehaut. Absurderweise fragte er: »Sie gestatten?«
    Ganz langsam wandte sie ihm das Gesicht zu, wodurch es in den schmalen Lichtstreifen gelangte, der durch die halboffene Tür ins Zimmer fiel. Er sah einen weißen, langen Hals, einige Strähnen nachtschwarzen Haares. Schläfe, Ohr, Stirn, eine perfekt geformte Nase. Ein Auge, ruhig und fest, dessen lange Wimpern nicht einmal zuckten. Sogar im Halbdunkel wurde Maione klar, dass er sich einer außergewöhnlichen Schönheit gegenüber fand. Das Profil wandelte sich im Morgenlicht zum Gesamtbild einesGesichts. Maione stockte der Atem. Die Frau beendete ihre Bewegung und der Brigadiere sah, was einige Minuten zuvor Donna Vincenza gesehen hatte.
    Filomenas rechte Gesichtshälfte war durch einen tiefen Schnitt entstellt, der von der Schläfe bis zum Kinn reichte.
    Aus der Wunde fiel noch ein Tropfen auf den blutbedeckten Boden.
    Maione, der endlich wieder ausatmen konnte, entfuhr ein Stoßseufzer.

    Teresa war früh aufgestanden: Sie hatte es stets so gehalten, bevor sie als Dienstmädchen in die Stadt kam, früher, als sie noch auf dem Land lebte, und hatte es sich seitdem nicht abgewöhnt.
    Sie hatte eine gute Stelle in dem eleganten Herrenhaus der Via Santa Lucia. Es lebten weder Kinder noch alte Leute im Haus, viele der fünfzehn Zimmer der großzügigen Residenz blieben immer geschlossen und sogar sie selbst, die sie hätte sauber machen sollen, betrat sie höchstens zwei Mal im Jahr. Teresa gefiel es außerdem, das Leben der Herrschaften zu teilen, indem sie ihnen zusah. Sie fragte sich, wie man so reich und trotzdem nicht glücklich sein konnte. Selbst für sie war es offensichtlich, dass ihre Herrschaften litten.
    Die Signora war sehr viel jünger als der Professor. Sie war unglaublich schön, und Teresa erschien sie wie die heilige Madonna dell’Arco mit all dem Schmuck, den sie besaß, den Kleidern, den Schuhen; und wie die Madonna trug ihr Gesicht stets einen Ausdruck des Schmerzes, hatte sie traurige Augen, die ins Leere starrten. Teresaerinnerte sich an eine Frau aus ihrem Dorf, der ein Sohn an Fieber gestorben war: Auch ihre Augen waren danach wie die der Signora gewesen.
    Der Professor war nie da, und wenn er doch zu Hause war, schwieg er und las. Teresa traute sich nicht, ihn anzusehen, er machte sie befangen mit seinen weißen Haaren, groß, wie er war, stets elegant und mit steifen Kragen, die sie für ihn stärkte, goldenen Manschettenköpfen, dem Monokel mit Goldkette. Sie hatte ihn nie mit der Frau sprechen hören, die beiden waren wie zwei Fremde; einmal hatte sie den Eindruck gehabt, dass sie stritten, als sie den grünen Salon betrat, um den Kaffee zu servieren, aber sie konnte sich auch geirrt haben, vielleicht hatte sie bloß das Radio gehört. Sie trafen sich zu den Mahlzeiten, er las und sie starrte ins Leere. Ein paar Mal hatte sie die Signora frühmorgens zurückkommen sehen, nachdem sie die Nacht außer Haus verbracht hatte.
    An jenem Morgen versorgte sie die Wäsche. Es war früh, in der Ferne zogen die Fischer ihre Boote an Land und riefen sich gegenseitig laut zu. Es mochte sechs Uhr sein, eher noch früher. Plötzlich stand der Professor vor ihr, wie sie ihn noch nie gesehen hatte: das Haar zerzaust, der Kragen aufgeknöpft, Bartstoppeln auf den sonst immer vollkommen glatt rasierten Wangen. Verdrehte Augen, das Monokel hing ihm aus der Brusttasche heraus wie ein kaputter Anhänger. Er hätte eigentlich im Schlafzimmer sein und schlafen müssen, er wachte nie vor acht Uhr auf.
    Er näherte sich ihr, nahm ihren Arm und drückte ihn fest.
    »Meine Frau. Ist meine Frau schon zurück?«
    Sie schüttelte den Kopf, aber der Mann lockerte seinen Griff nicht.
    »Hör mal, hör mir gut zu, wie heißt du noch gleich, Teresa, nicht? Also, Teresa: Meine Frau wird gleich nach Hause kommen. Du darfst nichts sagen, verstehst du? Kein Wort. Ich bin gestern Abend zurückgekommen und du hast mich

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