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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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liegenden Formular ins Rotieren geriet. Seine Miene verriet Besorgnis und Maione empfand eine ganz leichte, stolze Zärtlichkeit: Man las nicht oft einen Gefühlsausdruck in den Augen seines Vorgesetzten, er wusste das sehr gut.
    »Nein, nein, nichts passiert, Commissario. Ich habe einer Frau geholfen, die ... sich verletzt hatte, ich hab’ sie ins Krankenhaus gebracht. Entschuldigen Sie die Verspätung, tut mir leid, jetzt haben Sie keinen Kaffee bekommen.«
    »Halb so schlimm, es gibt nichts Neues. Alles in Ordnung, die Stadt ist auch ohne dich ruhig geblieben, alles, wie’s sein soll.«
    »Der Kaffee kommt sofort; in der Zwischenzeit mach’ ich mich ein bisschen sauber. Sie gestatten.«
    Kaum war Maione weg, nahm Ricciardi seinen Stift wieder zur Hand; doch das Schicksal wollte, dass seine Formulare, zumindest an jenem Tag, unausgefüllt blieben. Nur einen Augenblick später erschien die Wache vom Haupteingang an der Tür, um dem Kommissar mitzuteilen, dass man in der Sanità eine Leiche gefunden hatte.

    Das mobile Einsatzkommando des königlichen Polizeipräsidiums von Neapel war nur dem Namen nach mobil. Ricciardi mochte die Ironie, die sich hinter der Bezeichnung verbarg, wenn man den chronischen Fahrzeugmangel in seiner Einheit bedachte.
    Eigentlich besaß das Polizeipräsidium sogar zwei Fahrzeuge: einen alten Fiat 501 von 1919 und einen leuchtend roten 509 A von 1927. Er persönlich hatte sie in seinen vier Dienstjahren nicht öfter als drei, vier Mal gesehen: Der erste Wagen war ständig in der Reparaturwerkstatt, der zweite einschließlich Chauffeur diente dem äußerst gewichtigen Zweck, die Gattin und die Tochter des Polizeipräsidenten auf ihren Shoppingtouren zu begleiten.
    Wenn also etwas in einem abgelegenen Viertel passierte, so wie jetzt, wurde das Einsatzkommando auf seinen mit Dienststiefeln beschuhten Füßen mobil.
    Für Ricciardi war es wichtig, rechtzeitig vor Ort zu sein. Er wusste nur zu gut, welche und wie viele Schäden ein oder mehrere Neugierige, nur weil sie unbedingt Zeuge sein und etwas Grauenvolles zu erzählen haben wollten, am Schauplatz eines Verbrechens anrichten konnten. Fußabdrücke, verrückte Gegenstände, geschlossene Fenster, die zuvor offen, und offene Fenster, die zuvor geschlossen waren, aufgerissene Türen.
    Daher hasste es der Kommissar, als Letzter am Tatort einzutreffen. Sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, mit unnötigen Fragen überhäuft zu werden, den schreienden Familienmitgliedern Erklärungen abzugeben: alles Dinge, die sich in einem Arbeiterviertel noch potenzierten, und Ricciardi, der nicht weit davon entfernt wohnte, wusste, dass die Sanità das Arbeiterviertel schlechthin war. Während er mit seinen Leuten die Via Toledo hochging, er vorne, ein keuchender Maione einen Schritt hinter ihm und zwei Polizisten als Schlusslicht der kleinen Prozession, sagte er sich, dass jede Minute, die verrann, eine verlorene Minute war, und beschleunigteden Schritt: Es war dieselbe Straße, die er abends auf dem Nachhauseweg entlang lief. Diesmal allerdings warteten auf ihn nicht sein Abendessen und das erleuchtete Fenster von gegenüber.

    Als er in Sichtweite des kleinen Platzes oberhalb von Materdei war, merkte er, dass es nicht nötig sein würde, nach dem Weg zu fragen: Es genügte, den aufgeregten Jungs zu folgen, die in dieselbe Richtung rannten. Das Schauspiel konnte im Dschungel kaum anders sein: Es erinnerte ihn an die vom Geruch des Blutes angezogenen Hyänen und Geier, ganz wie in den Büchern von Emilio Salgari. Die Menge drängte sich am Fuße eines mehrstöckigen Wohnhauses. Maione und die beiden Polizisten formierten sich keilförmig vor Ricciardi, um ihm einen Weg zu bahnen; auch wenn bereits der Klang ihrer Stimmen ausreichte, damit die Leute sich zerstreuten, um nur bloß keinen Polizisten zu berühren, nicht einmal versehentlich.
    An der Eingangstür angelangt, blieben die Männer stehen und es trat Stille ein. Ricciardi blickte sich um, um zu sehen, ob jemand etwas sagen, ihnen vorab etwas mitteilen wollte. Schweigen. Männer, Frauen, Kinder: allesamt stumm. Niemand senkte den Blick, niemand tuschelte. Die Männer hielten ihre Hüte in der Hand; in den Augen der Leute lag Erstaunen, Neugier, Überraschung, vielleicht sogar Spott, aber keinerlei Angst.
    Ricciardi begegnete wieder dem alten Feind: die bestehende Ordnung des Viertels, die derjenigen gegenüberstand, die er selbst vertrat. Diese Leute erkannten seine Autorität nicht an:

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