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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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ob mandas Chaos beseitigen kann, und geht zurück zum Präsidium, um die Jagd aufzunehmen.
    »Nein, lass sie nur. Ich geh’ schon.«
    Das Leben hält immer eine Überraschung bereit, dachte Maione. Er sagte »jawohl« und ließ seinen Vorgesetzten durch.

    Ricciardi lehnte die Tür hinter sich an. Er betrat ein kleines Vorzimmer, in dem ein Kleiderständer mit Hutschachtel und eine kleine Bank standen: Letztere war aus massivem Holz, ein Möbelstück, das man in diesem Viertel in der kleinen Wohnung nicht unbedingt erwartet hätte. Das Wimmern kam von der einzigen Tür her, durch die auch das Licht drang. Nach zwei weiteren Schritten befand sich Ricciardi bereits im Esszimmer.
    Er sah eine Couch und einen Sessel aus blauem Satin mit Goldverzierungen; die Sitzflächen waren abgenutzt, dort, wo man den Kopf anlehnt, lagen kleine bestickte Tücher. Ferner gab es einen runden Tisch, drei Stühle, einer davon stark lädiert, einen Teppich. Ricciardi bemerkte ein Loch in seinem Gewebe, in der Ecke, die am weitesten von der Eingangstür entfernt lag. Es lag etwas wie Angst in der Luft, Angst und ein reiner Schmerz. Das Licht, das durch die weit offene Fenstertür fiel, blendete ihn; die Aussicht war unverbaut. Ein Windhauch bewegte die Gardine, ohne jedoch die Gerüche zu vertreiben. Schade, dachte Ricciardi.
    Der Kommissar nahm auch einen süßlichen Nachgeschmack wahr: Der Tod forderte Raum.
    Ein Brummer stieß hartnäckig gegen die Fensterscheibe.
    Noch ein Schritt: Jetzt sah er, worauf der Sessel bisher die Sicht versperrt hatte. Hinter dem Sofa saß, kaum wahrnehmbar, ein Mädchen zusammengekauert auf dem Boden, das sich hin und her wiegte und sein eintöniges Klagelied sang. Vielleicht einen Meter weiter befand sich, kaum außerhalb des Lichtstreifens, der durch die Fenstertür ins Zimmer fiel, und nahe dem vierten, umgekippten Stuhl ein Bündel aus Lumpen in einer dunklen und fast trockenen Pfütze. Das Mädchen schaute nicht das Bündel an, es blickte in die andere Ecke des Raumes.
    Ricciardi blickte in dieselbe Richtung. Und sah es.
XIV
    Ricciardi und das Mädchen betrachteten die Alte. Nicht die Leiche: Sie war etwas Zurückgebliebenes und Schmutziges, wie der Teppich, auf dem sie lag. Sie betrachteten ihr Abbild, das aufrecht in der schattigen Ecke stand und in den Farben ihrer letzten Gefühlsregung erstrahlte.
    Der Kommissar war nicht überrascht: Er hatte verstanden, dass auch das Mädchen die Toten sah.
    Es war ein Paradox: Ricciardi hatte keine Angst vor den Toten, sondern vor der Gabe und demjenigen, der sie besaß. Einschließlich ihm selbst.
    Jetzt beobachtete er das am Boden zusammengekauerte Mädchen: Es bewegte sich rhythmisch vor und zurück und wimmerte dabei. Sein Blick war fokussiert, als ob es etwas ansehen würde. Die Stirn hatte es dabei kraus gezogen, wie wenn es irgendwas nicht verstand. Es schaute den Tod an, keinen Toten. Und es weinte, vielleicht vor Schmerz, vielleicht vor Schrecken.
    Er wandte seine Aufmerksamkeit der Gestalt der Frau zu: eine wie viele andere, wie die Frauen vom Markt um die Ecke, die genauso viele Jahre wie Leiden auf dem Buckel trugen. Sie trug ein Kleid aus bedruckter Baumwolle, passend für jede Jahreszeit, und einen fleckigen Schal. Sie war klein, hatte durch die Arthritis verunstaltete Hände, hielt sich gebückt. Ihre Beine waren aufgedunsen und rot und blau von Krampfadern.
    Ricciardi war sofort klar, dass der Mörder sie massakriert hatte. Glühender Zorn, nicht kaltes Kalkül war hier am Werk gewesen, blinde und dumpfe Leidenschaft. Der Hals war unnatürlich verdreht, die Wirbel gebrochen; der Schädel der Frau war auf der rechten Seite eingedrückt, ebenso wie der Wangenknochen, ein Auge war zerquetscht, das Ohr zerfetzt. Alles deutete auf eine Reihe von Schlägen, vielleicht mit einem Stock, hin.
    Auch die Hüfte schien auf der anderen Seite gebrochen. Flüchtig sah Ricciardi nach dem Lumpenbündel und erhielt bestätigt, wonach er suchte: Es lag auf der rechten Seite. Der Mörder hatte sich auf die Leiche gestürzt, sie eventuell getreten. So erklärte sich auch das Ausmaß des Blutflecks auf dem Boden, die Spur war fast einen Meter lang. Wir haben es mit einem Mittelstürmer zu tun, dachte er, einem, der ins Ziel zu treffen weiß.
    Er konzentrierte sich, blendete das Wimmern des Mädchens und das Gemurmel, das von draußen heraufstieg, aus. Das intakte Auge hatte einen fast zärtlichen, weichen Ausdruck: wahrscheinlich ein grauer Star, ein durchsichtiger

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