Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Schleier. Er neigte den Kopf ein wenig, um besser zuzuhören.
Er hörte nicht die Überraschung, die einen plötzlichenTod fast immer begleitete. Er hörte nicht unbändigen Hass, blinde Wut, den Zorn der Beraubung. Er hörte nicht den schmerzlichen Moment des Loslassens. Stattdessen hörte er Schwermut. Und eine irgendwie obszöne Zärtlichkeit, einen Hauch von Stolz. Das schwache, kratzige Flüstern der alten Kehle: »Der Herrgott ist kein Händler, der seine Schulden samstags zahlt.«
So verharrten sie eine Minute lang – eine merkwürdige Familie, die Schmerz und Tod vereint hatten: Das Mädchen mit seinem Singsang, dem finsteren Gesichtsausdruck und einem Speichelfaden, der ihm vom Mundwinkel troff. Der Mann aus Wachs, der wie angewurzelt dicht hinter der Tür des Esszimmers stand, die Hände in den Taschen des offenen Mantels vergraben, den Kopf leicht zur Seite geneigt, eine Haarsträhne quer über der unbedeckten Stirn. Und der Geist der Alten mit gebrochenem Genick, die dem eigenen Tod eine merkwürdige Empfindung entgegenbrachte und mit einem leichten Seufzer ein altes neapolitanisches Sprichwort wiederholte.
Am Ende war es der dickköpfige Brummer, der den dunklen Zauber der stehen gebliebenen Zeit zerriss und das Tor zur Hölle verschloss: Er hatte einen letzten und endgültigen Zusammenstoß mit der Scheibe der Fenstertür und wurde zur zweiten Leiche im Zimmer.
XV
Teresa staubte einen der Salons ab. Sie fragte sich, warum sie jeden Tag sauber machen musste, was schon sauber war, und dort aufräumen musste, wo bereits Ordnung herrschte, und wozu dieses riesige undstets verschlossene Haus so viele Zimmer und Salons brauchte, obwohl nie Gäste darin empfangen wurden. Es kam ihr vor wie ein Totenhaus; ihre Herrschaften lebten ihr Leben außerhalb dieser Mauern, um dann in das Schweigen der dunklen Zimmer und des matten Silbers einzutauchen wie in ein Grab.
Die Signora war gegen neun von ihrer langen Nacht zurückgekehrt. Teresa war ihr im Korridor begegnet, hatte ihr mit gedämpfter Stimme einen Gruß entboten, was wie immer unbeachtet blieb: Die Toten hören nicht. Sie hatte in jenem kurzen Augenblick allerdings eine Veränderung bemerkt, denn aus dem Gesicht der Signora war jenes feine Lächeln verschwunden, das sich im letzten Monat darauf abgezeichnet und ihre anmutigen Züge erhellt hatte. Diesmal verriet ihr Ausdruck Schmerz, Verlust, Resignation. Die Frau schlurfte mit leeren Augen dahin, Spuren von Tränen hatten die Schminke verwischt.
Sie hatte nicht mit ihr gesprochen, sich nicht nach ihrem Mann erkundigt, wie sie es manchmal tat. Teresa war erleichtert darüber, sie wusste nicht, ob es ihr entsprechend den Anweisungen des Professors gelungen wäre zu lügen, zu sagen, dass sie ihn seit dem Abend zuvor nicht mehr gesehen hatte. Zum Glück war Signora Emma an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu sehen, als ob sie einer anderen Dimension angehörte. Wie ein Geist.
Maione hatte die Wache vor der Tür stehen lassen und war auf Ricciardis Rufen hin in die Wohnung gekommen, die er jetzt mit seinem Vorgesetzten durchsuchte. Sie hatten eine gute halbe Stunde Zeit, bevor der Staatsanwalt und der Gerichtsarzt eintreffen würden, nach denen sie geschickt hatten.
Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte: Das Opfer, dessen Name Carmela Calise war, lebte allein; sie war unverheiratet, hatte keine Kinder, es waren keine Verwandten bekannt. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einer kleinen Küche; der Abort auf dem Treppenabsatz wurde gemeinsam mit drei weiteren Familien benutzt. Außer dem Esszimmer, in dem sie gestorben war, gab es ein Schlafzimmer mit einer billigen Blumentapete in schrillen Farben, die einen starken Duft nach frischem Klebstoff ausströmte. Maione kam der Gedanke, dass die Alte, wenn man sie nicht ermordet hätte, ganz sicher noch in derselben Nacht im Schlaf an einer Vergiftung gestorben wäre.
Sie gingen zurück ins Esszimmer, wo die Pförtnerin sich ausdruckslos über ihre Tochter gebeugt hatte und ihren Kopf streichelte: Sie hatte nicht aufgehört mit ihrem Singsang, wiegte sich weiter hin und her und starrte immer noch das an, was nur sie und Ricciardi in der dunklen Ecke sahen. Mechanisch folgte der Kommissar ihrem Blick.
»Der Herrgott ist kein Händler, der seine Schulden samstags zahlt« , wiederholte die Erscheinung mit dem gebrochenen Genick und der kratzigen Stimme. Der Vorhang wurde von einem Windhauch bewegt. Von der Straße her ertönten die Rufe spielender
Weitere Kostenlose Bücher