Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Sie würden ihn nicht behindern, aber auch nicht unterstützen. Sie wollten ihn ganz einfach nichtdahaben. Je eher er ging, desto besser. Dann konnte jeder sich wieder um die eigenen Angelegenheiten kümmern oder seine Toten beweinen.
Von oben hörte man ein langes Wimmern, vielleicht von einer Frau. Ricciardi sprach und sah den vor ihm stehenden Personen dabei direkt in die Augen.
»Maione, die Wachleute sollen an der Eingangstür warten und du kommst mit mir. Wenn jemand eine Aussage machen möchte, soll er seinen Namen hinterlassen: Wir befragen ihn dann im Präsidium.«
Seine Worte begleitete Schweigen. Ein alter Mann scharrte mit den Füßen, was ein leises Knirschen ergab. Ein kleines Kind brabbelte in den Armen seiner Mutter. In der Mitte des Platzes stoben ein paar Tauben davon.
Ricciardi drehte sich um, betrat die Vorhalle und begann, die Treppen hinaufzusteigen.
XIII
Stufe um Stufe vermischte sich der beißende Gestank nach Urin und Exkrementen mit dem stechenden Geruch nach Knoblauch, Zwiebeln und Schweiß.
Noch vor seiner Gabe war Ricciardi eine andere besondere Fähigkeit an sich aufgefallen: die verfluchten Gerüche waren es, die ihn mal betäubten und mal zerstreuten, seine Gedanken in Unordnung brachten, wie der Wind es mit der aufmüpfigen Haarsträhne tat, die er sich aus der gerunzelten Stirn strich. Von irgendwo aus den versteckten Winkeln des dunklen Treppenhauses fühlte er die Blicke Unbekannter auf sich ruhen. Er erahnte sie mehr, als dass er sie sah, und spürte ihre feindselige Neugierde.Hinter ihm waren die schweren Schritte Maiones zu vernehmen, sein Gang war sicher und beschützend; für Ricciardi war der Brigadiere ein wandelndes Notizbuch, das alle Bilder und Worte, auf die sie während der Ermittlungen trafen, bewahrte. Danach würde es reichen, in seinem Gedächtnis zu blättern, um darin Gefühle, Stimmen und Eindrücke wiederzufinden.
Im dritten Stock stießen sie vor einer angelehnten Tür auf einen weiblichen Koloss: Die fettigen Haare der Frau waren im Nacken zu einem Knoten gebunden, das Gesicht gerötet, die Hände unter der Brust verschränkt. Ihre Knöchel waren bleich von der Anspannung der ineinandergeflochtenen Finger; sie schien es gewohnt zu sein, mit Ausnahmesituationen zurechtzukommen, allerdings nicht mit dem Fall, der ihr gerade zugestoßen war. Maione sprach sie an.
»Sie sind?«
»Nunzia Petrone, die Pförtnerin. Ich habe die Leiche gefunden.«
Aus der Antwort war keinerlei Stolz herauszuhören, auch nicht Verlegenheit oder Angst. Es war eine einfache Feststellung.
Das Tageslicht aus der Wohnung zerschnitt die Dunkelheit des Treppenabsatzes wie eine Klinge und Ricciardi hörte nun sehr deutlich das Wimmern, das ihm schon auf der Straße aufgefallen war.
»Wer ist da drin?«
»Nur meine Tochter, Antonietta. Sie ist behindert.«
Das sagte sie, als ob damit alles erklärt wäre. Maione sah Ricciardi fest an, der nickte, ohne seinem Blick zu begegnen. Hinter ihnen hatte sich fast lautlos die übliche kleineMenschentraube gebildet. Hälse wurden gereckt, Blicke suchten begierig nach Details, die man weitererzählen und bei der Gelegenheit gleich ausschmücken könnte. Die enge Treppe ließ allerdings nur wenig Platz.
»Cesarano!«, schrie Maione, »Ich hatte doch gesagt, es darf keiner hochkommen!«
Von der Straße her ertönte die Antwort des Polizisten.
»Es ist auch keiner hochgegangen, Brigadiere!«
»Das sind Leute aus dem Haus«, mischte die Pförtnerin sich ein.
»Hier gibt’s nichts zu sehen. Geht zurück in eure Wohnungen.«
Niemand rührte sich. Die ganz vorne Stehenden sahen weg, stellten sich taub und taten unschuldig.
»Na gut, verstehe; Camarda, nimm die Namen der Herrschaften auf, dann wissen wir, wen wir auf ein Plauderstündchen ins Präsidium bestellen sollen.«
Noch bevor er die magische Formel vollendet hatte, hatte sich die Ansammlung bereits zerstreut. Türen wurden geräuschvoll geschlossen und der Treppenabsatz war wieder frei bis auf Nunzia, die Pförtnerin.
Maione wandte sich an Ricciardi.
»Commissario, soll ich die Tochter der Frau rausschicken?«
Das alte, wohlbekannte Prozedere: Ricciardi nimmt den Ort des Geschehens zuerst allein in Augenschein und durchlebt noch einmal die Mordszene. Dann geht Maione rein, der das Ganze mit dem Blick des Polizisten betrachtet: erste Spurensicherung, Position des Toten, Fenster und Türen. Zeugen werden gesucht und verhört. Schließlich wird der Staatsanwalt gerufen, man schaut,
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