Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Doktor war der Einzige, der es sich erlauben konnte, den Kommissar zu duzen, und der Einzige, der in der Lage war, seinen Humor zu verstehen.
XVII
Ein wenig aus dem Abseits heraus beobachtete Ricciardi das Ballett, das sich nach einem Mord vollzog. Die Bühne änderte sich, doch das Ensemble, das darauf auftrat, war mehr oder weniger immer dasselbe: der Doktor, ein Fotograf, ein paar Polizisten, Maione und er. Jeder verfügte über eine eigene Partitur und Choreographie, gab acht, nicht in den Bereich des anderen einzudringen, erledigte seine Arbeit. Man sprach, kommentierte, lachte sogar bisweilen: ein Job wie jeder andere.
An der Türschwelle, hinter dem Polizisten, dessen Aufgabe es war, den Schauplatz des Verbrechens abzusperren, waren neugierige Augen krankhaft auf der Suche nach Details, die in den Erzählungen des Viertels nach Belieben ausgeschmückt werden könnten. Noch Tage würde das einen Gesprächsstoff unter Nachbarn, Freunden und Verwandten geben. Immer dasselbe Lied. Jedes Mal.
Maione machte Ricciardi auf etwas aufmerksam; er hatte sich neben dem Teppich hingekauert, sorgsam darauf bedacht, nichts zu verrücken oder anzufassen. Aufgrund seiner Körpermaße erinnerte er in dieser Position an eine Buddhastatue aus Alabaster, die kurioserweise in einer Polizeiuniform steckte.
»Sehen Sie mal her, Commissario: Hier ist jemand durch das Blut gelaufen. Es gibt Fußspuren.«
Ricciardi ging näher heran und inspizierte die Stelle aufmerksam. Tatsächlich ließen sich mindestens zwei Abdrücke erkennen. Ein breiter, schwerer, und ein anderer mit etwas unschärferen Konturen. Ein dritter Abdruck folgte weiter hinten: Dieser war ausladend und langgezogen. Maione fuhr fort und zeigte dabei auf den letzten Abdruck.
»Das ist das Standbein des Bastards, der sie getreten hat. Er ist zweimal in dem Blut ausgerutscht, sehen Sie.« Er wies auf eine andere Stelle der schwarzen Pfütze.
»Hier dagegen, und auch hier, sieht’s fast so aus, als ob sich jemand auf Zehenspitzen genähert hätte. Weder die Pförtnerin noch die Tochter hatten aber schmutzige Schuhe; ich hab’s selbst kontrolliert. Was soll das, hat der Täter ein Ballett aufgeführt?«
Ricciardi dachte nach.
»Wir könnten es auch mit verschiedenen Zeitpunkten zu tun haben. Jemandem, der erst später gekommen ist, als das Opfer schon tot war.«
»Na, das ist ja ein schönes Kommen und Gehen ... wie am Hauptbahnhof, was? Und wann soll das gewesen sein, wenn sie die Frau gestern Abend noch kurz vorm Zubettgehen gesehen und sie heute morgen schon um halb zehn tot aufgefunden haben?«
Aus dem Schlafzimmer rief Cesarano, der zweite Polizist, ihnen etwas zu.
»Commissario, Brigadiere, kommen Sie!«
Cesarano stand neben der Kommode und hielt ein Heft in der Hand. Es war ein Schulheft mit schwarzem Umschlag und roten Seitenrändern. Ricciardi nahm es in Empfang.
»Es war hier, unter den Leintüchern.«
Auf jedem Blatt stand eine Zahl, eventuell ein Datum. Dann folgte eine Liste mit Namen mit einer Zahl daneben, die einer Uhrzeit glich. Hinter den Namen, in zittriger, großer und seitwärts geneigter Schrift, standen ein paar Worte in miserabler Rechtschreibung. Ricciardi las einen zufälligen Auszug:
» 9 Polverino, männlich, Gelibte Giovana, wenig Geld
10 Ascione
11 Imparato, weiblisch, Fater tot, viel Geld
12 Del Giudice, weiblisch, Mann brügelt sie
14 La Cava, Mann, Schulden zu bezalen, wenig Geld, Wurstferkäufer
15 Pollio
17 S. di A., hat Mann ihres Lebens getroffen
18 Cozzolino, weiblisch, armer Verlopter, reicher alter will sie. Viel ferlangen.«
Ricciardi sah Maione mit einem schiefen Lächeln an.
»Der gute Cesarano hat das Buch der Zukunft der Kunden unserer Heiligen gefunden. Einschließlich Preisliste. Gehen wir nach drüben und hören, was der Doktor sagt.«
Als sie näher traten, sah Modo sie kopfschüttelnd an.
»Sie war sicher schon nach dem ersten Schlag tot. Sehen Sie hier: Der Schädel ist zertrümmert, das Gehirn zerquetscht. Im Krankenhaus werde ich’s dir genauer sagen können, aber meiner Meinung nach wäre überhaupt nicht so viel Kraft nötig gewesen. Die Osteoporose hat ihre Knochen schwach und zerbrechlich gemacht, eine gut platzierte Ohrfeige hätte wahrscheinlich auch gereicht, um sie umzubringen. Wie kann ein Mensch nur so widerwärtig sein?«
Ricciardi sagte nichts: Er starrte weiter das Lumpenbündel an, das Modo aufgerichtet hatte wie eine Marionette, eine kleine angezogene Schneiderpuppe, ein altes
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