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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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mit dem Rücken am Regal stand; ihr Schal verfing sich in einem Stoffballen und fiel herab, entblößte ihr Gesicht.
    Erst schien es Matteo ein Trugbild von Licht und Schatten zu sein, doch dann sah er es ganz klar.

    Im Schlafzimmer stand ein antikes Möbelstück. Im beschwerlichen Leben eines Paares mit sechs Kindern, das stets hart gearbeitet hatte, war es ein Luxus gewesen. Raffaele hatte es ihr geschenkt, damals, als in diesem Hausnoch mehr gelacht als jetzt auch nur gesprochen wurde. Ein Tribut an ihre Weiblichkeit. Hundert Jahre schienen seitdem vergangen zu sein.
    Lucia begann, sich zu erinnern.
    Sie sah ihren Mann vor sich, wie er sie vom Bett aus verliebt anschwärmte, wenn sie sich vor dem Spiegel kämmte. Sie erinnerte sich an sein bewunderndes Lächeln und daran, wie sie ihn geneckt hatte: »Was schaust du so? Du guckst ja wie im Kino ...« Und er: »Keine Schauspielerin ist so schön wie du. Was soll ich da im Kino?«
    Vor langer, langer Zeit hatte das Leben ihr einen starken und fröhlichen Mann geschenkt und sechs wunderbare Kinder. Es wurde gelacht, gearbeitet, gestritten, der Sonntag in der Küche verbracht, jeden Morgen wusch sie Berge von Kleidern unten auf der Piazza und sang dabei die alten Lieder. Das Leben hatte ihr viel geschenkt. Und es ihr wieder weggenommen. Luca hatte das Haus eines Morgens mit einem Stück Brot in der Hand verlassen, wie immer, los, auf, Mama! Und auch an jenem Morgen hatte er sie in den Arm genommen und sie im Kreis herumgewirbelt, bis sie außer Atem war. Es war das letzte Mal, dass sie ihn lebend gesehen hatte.
    Lucia tat einen Schritt in Richtung des Toilettentischs, fuhr mit einem Finger forschend über die Tischplatte. Nein, es lag kein Staub darauf. Sie war mit der Zeit noch strenger geworden, was Ordnung und Sauberkeit betraf, ihre Kinder wussten das und passten darauf auf. Das Haus war frei von Staub und von Leben. Fast wie eine Kirche, man hätte nicht geglaubt, dass noch fünf andere Kinder darin lebten. Lucia wusste, dass sie nicht gerne bei einer Mutter waren, die stumm und cholerisch geworden war.Es tat ihr leid, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie gingen nach draußen zum Spielen, belebten die Straße vor dem Haus, wurden von allen geliebt, auch von ihr – allerdings aus der Ferne.
    Sie nahm den Stuhl, der zu dem Toilettentischchen gehörte, und rückte ihn heran. Seit Jahren stand er nun schon am Fuße des Betts und diente bloß dazu, ihren Morgenrock zu halten. Sie setzte sich.
    Lucia war sich ihrer Schönheit stets bewusst gewesen. Sie war blond, hatte blaue, strahlende Augen, einen leichten Schmollmund. Ihre schmale Nase war ein wenig lang und verlieh ihrem Gesicht Persönlichkeit. Sie war schön. Und sie wusste es. Doch sie hatte sich vernachlässigt; sie fragte sich, wer wohl die Fremde sei, die da in den Spiegel blickte.
    Sie betrachtete die undurchdringlichen, ein wenig geröteten Augen. Den schmalen Mund. Die neuen Falten in den Augenwinkeln und auf den Wangen: Zeichen des täglichen Schmerzes.
    Wie alt bin ich?, dachte sie. Vierzig. Fast Einundvierzig. Ich sehe aus wie eine Greisin. Sie sah sich verwirrt um. Unsichtbar tanzte der Frühling in dem Sonnenstrahl, der auf den Rahmen des Spiegels traf und ihn rot färbte. Sie hörte Lucas Stimme, dachte an ihren Mann, der an diesem Morgen das Haus verlassen hatte, ohne sich noch einmal umzudrehen, um von der Straße aus zum Schlafzimmerfenster zu schauen, wie er es früher immer getan hatte, vor langer Zeit.
XXVI
    Der Frühling hielt unübersehbar Einzug. Die Luft war klar und heiter, ein lauer Wind blies mal stärker, mal schwächer aus verschiedenen Richtungen, trug die leichten Kopfbedeckungen der Frauen und die Filzhüte der Männer davon, zupfte an manchem Mantel. Ein junger, kindlicher Wind war es, der zwar Unfug trieb, seinen Biss aber verloren hatte.
    An den Wäscheleinen, die zwischen den Fenstern gespannt waren, schaukelten Leintücher und Hemden behäbig in der frischen Luft. Lächelnd und ohne besonderen Grund fingen die Leute Gespräche an, und mancher fliegende Händler schäkerte mit den jungen Frauen, die ihm ihren Korb herunterließen: So wurden Münzen hinab- und Obst und Gemüse oder Seife hinaufbefördert.
    Und während die Menschen wieder näher zusammenrückten, verschwanden Geldbeutel aus Taschen und Taschen von den Tischen der Cafés; manch freundliche Unterhaltung endete in einer Ohrfeige und hier und da blitzte eine Klinge im Sonnenlicht auf. Aber auch das war der

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