Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Tasche?
Salvatore Finizio, Maurer, Facharbeiter, Witwer. Ein Mann, der nicht viel zu lachen und nicht viel zu essen hatte. Der an seine Tochter Rituccia zu denken hatte, sie versorgen musste. Wenn er da manches Mal betrunken und müde seine selige Rachele vergaß, war ihm das etwa vorzuwerfen? Der Herrgott wird’s wohl verstehen. Und ihmvergeben. Wenn nur dieses verfluchte Kopfweh nicht wäre.
XXV
Jener Traum von neulich wollte Ricciardi nicht aus dem Kopf gehen. Er hörte wieder die Stimme seiner Mutter, eine Stimme, an die er sich in Wahrheit nicht einmal erinnerte, wie sie ihn aufforderte, fleißig zu sein und zu lernen. Aber was?
Unschlüssig saß er am Schreibtisch seines Büros, wog den schweren Briefbeschwerer aus Blei in seinen Händen; es war ein von der Front mitgebrachter Granatsplitter, ein Geschenk vom Verwalter seines Landguts.
Er betrachtete seine Papiere, all die Blätter und Zettel, die er auf der Tischplatte ausgebreitet hatte. Anstatt sich Notizen auf Zettelchen zu machen, hätte er in seinem Kopf Ordnung schaffen müssen, sich ein Heft besorgen sollen und alles aufschreiben. Ein Heft wie jenes, in dem die alte Calise ihre Termine notiert hatte. Der Herrgott ist kein Händler, der seine Schulden samstags zahlt.
Dem Geistesblitz, der seine Gedanken erhellte, folgte sofort auch der Donner, wie bei jedem Gewitter: Wie versteinert saß Ricciardi mit dem Stück Blei in der Hand da, erstaunt über die eigene Dummheit.
»Maione!«
Don Matteo De Rosa hatte stets gewusst, dass er eines Tages der Herr im Hause sein würde. Es war ihm klar gewesen, seit er begonnen hatte, für den alten Salvatore Iovine zu arbeiten, den wichtigsten Stoffhändler Neapels, der im Leben alles bekommen hatte, was er wollte, mitAusnahme eines Sohnes. Und Matteo hatte seine Tochter Vera geheiratet, ein wahres Monstrum, ihr Bartwuchs war stärker als sein eigener. Und obwohl man nicht einmal von weitem Lust hatte, sie anzusehen, hatte Vera mehr Verehrer gehabt als Penelope, mit all ihrem Geld.
Und so hatte, als der alte Iovine Blut spuckend von Ihnen gegangen war, Matteo das Zepter in die Hand genommen. Alles war glatt gegangen, bis Filomena auftauchte. Wenn er bloß an ihren Namen dachte, frohlockte sein Herz. Filomena.
Sie war eines Tages hereingekommen, ganz in schwarz gekleidet, in grobe Baumwolle, hatte ein Tuch über dem Kopf, als ob sie wer weiß was zu verstecken hätte. »Suchen Sie eine Verkäuferin?«, fragte sie. »Dazu müsste ich sehen, wie Sie in Erscheinung treten.« Daraufhin nahm sie seufzend das Tuch ab.
Matteo De Rosa verliebte sich noch im selben Moment Hals über Kopf in sie. Ihm wurde sofort klar, dass er nicht eher zur Ruhe kommen würde, bis er den Körper dieser Mensch gewordenen Göttin besaß. Und er stellte sie selbstverständlich ein. Jeden Morgen um Punkt acht, sagte er zu ihr. Und jeden Morgen pünktlich um acht war auch er da. Die anderen Angestellten kamen nicht vor halb neun; oft fanden sie ihn zerzaust und erhitzt vor.
Er hatte es mit Geschenken, Geld, Drohungen versucht. Doch nichts zu machen, sie lehnte alles ab. Erreicht hatte er nur, dass ihre wunderschönen dunklen Augen sich mit Tränen füllten. Je öfter sie ihn aber zurückwies, umso deutlicher begriff Matteo, dass er es ohne sie nicht aushielt. Also hatte er sie aufgefordert, sich zu entscheiden, sie würde sich sonst eine andere Arbeit suchen müssen.Vorausgesetzt, dass sie noch eine finden würde: Eine Verkäuferin seines namhaften Geschäfts, die von ihm gefeuert worden war, würde niemand einstellen wollen. »Verstehst du, Filomena? Hier heißt es entweder Matteo oder Not und Elend für dich und deinen Sohn. Bis morgen erwarte ich eine Antwort.«
Am nächsten Tag war Filomena nicht zur Arbeit erschienen. Ihr Sohn war gekommen, um Bescheid zu sagen, dass seine Mutter sich nicht wohl fühle. Er war dunkelhäutig und wild, hielt den Hut zwar in der Hand, doch in seinem Blick lag keinerlei Respekt.
Matteo öffnete seinen Laden weiter frühmorgens und wartete. Und Filomena kam zurück; um den Kopf hatte sie dasselbe Tuch gebunden wie damals, als sie das Geschäft zum ersten Mal betreten hatte.
Er ging ihr entgegen, hielt den Atem an. »Wie hast du dich entschieden?«, raunte er.
Draußen fuhr eine Kutsche mit eisenbeschlagenen Rädern vorbei, die auf dem Straßenpflaster dröhnten. Der Ruf eines fliegenden Händlers war zu hören.
Filomena zog sich ins Halbdunkel zurück, um der Berührung mit ihm auszuweichen, bis sie
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