Der Fruehling des Commissario Ricciardi
haben.
Der Professor sah sie erstaunt an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er versuchte zu sprechen, doch die Stimme versagte ihm. Hustend griff er nach seinem Taschentuch, das in der zerknitterten Hose steckte. Er stank nach Cognac.
»Die Zeitung«, sagte er, »wo ist meine Zeitung?«
Teresa deutete mit dem Kopf auf die Konsole, wo das Frühstückstablett mit der Tageszeitung den Platz des Abendessens eingenommen hatte. Ruggero riss die Zeitung an sich und begann, sie hektisch Seite für Seite durchzublättern, sein Atem ging schwer. Teresa war wie versteinert. Der Mann hielt inne und las, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Er atmete noch nicht einmal. Anscheinend hatte er die Nachricht, die er suchte, gefunden.
Dann taumelte er, als ob er ohnmächtig werden würde, und hielt sich an dem Tablett fest, das beim Herunterfallen ein metallisches Klirren erzeugte und ein Meer von Scherben hinterließ. Teresa machte einen Satz nach hinten. Ruggero sah sie an, dann wandte er den Blick wieder ab und starrte erneut auf die Zeitung. Er weinte. Diejunge Frau wäre gerne woanders gewesen. Der Professor ließ die Zeitung zu Boden fallen, drehte sich zu seinem Arbeitszimmer um, ging hinein und schloss leise die Tür hinter sich. Teresa bemerkte, dass er barfuß war.
Sie konnte nicht lesen, also schaute sie nicht auf das Blatt. Hätte sie lesen können, hätte sie den Titel des Artikels gesehen, der den Professor so erschüttert hatte: Frau im Sanità-Viertel ermordet: Ein Stock als Tatwaffe?
XXVII
Auch an diesem Morgen lagen Groll und Hass in der Luft, als Ricciardi und Maione sich dem Wohnhaus der verstorbenen Carmela Calise näherten: plärrende Straßenjungen, Fensterläden, die verächtlich zugeknallt wurden, wenn sie vorbeigingen, böswillige Blicke aus dunklen Gassen – sogar am helllichten Tag. Ricciardi nahm es wie stets zur Kenntnis, und wie üblich sagte er nichts. Auch Maione schwieg an diesem Tag. Ein besonders kecker Junge erkühnte sich, ihn von hinten an der Jacke zu ziehen. Ohne auch nur langsamer zu werden, trat der Brigadiere wie ein Maultier nach hinten aus und das Kind flog in hohem Bogen auf die Straße; schnell stand es auf und lief ohne einen Laut der Klage davon.
Ricciardi war ein wenig beunruhigt: Der Brigadiere kam ihm merkwürdig angespannt vor, als ob er sich wegen irgendetwas Sorgen machte. Er nahm sich vor, später mit ihm zu reden, ohne zu indiskret zu sein.
Am Hauseingang erwartete sie bereits Nunzia Petrone, die Pförtnerin. Sie stand vor der Eingangstür stramm; zwar trug sie einen Reisigbesen anstelle eines Karabiners,war sonst jedoch kaum von einem Unteroffizier der Infanterie zu unterscheiden. Nicht mal der Schnurrbart fehlte.
»Einen schönen Tag wünsche ich. Haben Sie etwas vergessen?«
Ohne eine Miene zu verziehen oder die Hände aus den Manteltaschen zu nehmen, trat Ricciardi ihrer monumentalen Erscheinung entgegen und bohrte seinen Blick in ihren; ganz sicher war jemand vorgelaufen und hatte ihr gesagt, dass sie kommen würden.
»Auch Ihnen einen schönen Tag. Nein, wir haben nichts vergessen. Im Übrigen sind wir Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig.«
Er hatte mit leiser, fester Stimme gesprochen, so dass er nur von ihr gehört werden konnte. Die Frau trat zur Seite und senkte nervös den Blick.
»Natürlich nicht, Commissario. Bitte, treten Sie ein. Den Weg kennen sie ja.«
Gemeinsam mit Maione kletterte Ricciardi die steile Treppe hinauf. Das Haus wirkte unbewohnt. Selbst im Hof war es mucksmäuschenstill.
Vor der versiegelten Tür der Calise blieben sie stehen. Maione, der bereits den Schlüssel aus der Tasche gezogen hatte, schloss auf und trat zur Seite, um dem Kommissar den Vortritt zu lassen.
Das Zimmer lag unberührt im Halbdunkel; durch die Fensterläden drangen einzelne Lichtstrahlen, in denen Staubkörnchen umherwirbelten. Es stank immer noch nach Knoblauch und eingetrocknetem Urin; hinzu kam der süßliche Modergeruch des geronnenen Bluts auf dem Teppich. Aus der gegenüberliegenden Zimmereckebegrüßte die Alte mit dem gebrochenen Genick Ricciardi mit ihrem Sprichwort.
» Der Herrgott ist kein Händler, der seine Schulden samstags zahlt.«
Richtig, dachte der Kommissar, diesmal war’s ein Dienstag. Rückzahlung einschließlich Zinsen, auch wenn du vielleicht gern drauf verzichtet hättest.
Maione ging zum Fenster und öffnete es; prickelnde, duftende Luft strömte herein.
»Der Frühling ist im Anmarsch, Commissario. Bald wird’s warm sein.«
Aus
Weitere Kostenlose Bücher