Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Frühling. Die Schlangen der Matrosen und Arbeiter vor den Eingängen der Bordelle wurden länger: Die neue Jahreszeit mit ihrem Zauber mischte das Blut auf. Manche junge Frau weinte um eine verlorene Liebe. Und der Frühling lachte spöttisch über alle Versprechen, die nicht eingehalten werden würden.
All diese Gedanken gingen Ricciardi auf dem Weg zur Sanità durch den Kopf, während Maione ihm schweigend und mit gesenktem Blick folgte. Wo sie vorbeigingen, schlug eine dunkle Woge der Angst über die Straße, die sich gleich darauf wieder verflüchtigte, um der trügerischen Sicherheit des Frühlings Platz zu machen.
Sie hätten auf die Trambahn warten, sich unter vielbeschäftigte Mütter und auf der Suche nach einer Tändelei herumlungernde junge Männer mischen können; aber Ricciardi zog zum Denken die frische Luft vor. Er wollte den Tatort wiedersehen, ihn mit allen Sinnen erkunden.
Sie passierten die zahlreichen Baustellen ihrer Stadt, in der eigentlich ständig gebaut wurde. Ricciardi dachte an all die neuen Häuser mit ihren weißen, dicken Mauern und den kleinen viereckigen Fenstern, die die hohen Fenstertüren ersetzt hatten. Über den flachen Eingangstüren waren mit Buchstaben aus Stein oder Bronze hochtrabende Schriftzüge mit Jahreszahlen und Wahlsprüchen angebracht. Ricciardi mochte die neue Architektur nicht besonders; beim Anblick der alten, vornehmen Bögen und filigran gearbeiteten Friese, die den schweren Marmorblöcken sanften Widerstand leisteten, geriet er dagegen stets in Verzückung.
Auf den Baugerüsten sah der Kommissar die Gestalten derer, die für die pompösen Gebäude – allesamt Zugeständnisse an den neuen römischen Größenwahn – ihr Leben gelassen hatten. Tote bei der Arbeit hatte es immer schon gegeben, aber aus irgendeinem Grund beeindruckte es Ricciardi doch stärker, wenn jemand für so viel Hässlichkeit unnütz starb.
Er wusste nur zu gut, dass er entlang der Straße zwischen dem Polizeipräsidium und der Kirche Santa Teresa zwei Toten begegnen würde. Abends waren sie noch düsterer, wie sie dort am Fuße der Gerüste lagen, von denen sie gestürzt waren, und ihren letzten Gedanken vor sich hin murmelten; tagsüber konnte man sie fast mit ihren alten Arbeitskollegen verwechseln. Der eine war allerdingskopfüber gefallen und sein schiefer Mund, mit dem er auf alle Heiligen schimpfte, war fast bis in die Brust gedrückt worden; der andere, ein blonder Jüngling mit einem Hemd, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, war auf dem Rücken gelandet und sein Körper vollständig verkrampft. Er rief nach seiner Mutter.
Teresa bemerkte die veränderte Witterung, die der ankommende Frühling durch die offenen Fenster hereintrug, und spürte den Gegensatz zu dem hartnäckigen Winter, der die dunklen Räume des Herrenhauses nicht verließ. Da sie auf dem Land aufgewachsen war, war sie gewohnt, nach dem Rhythmus der Jahreszeiten zu leben, und jedes Jahr blühte alles in ihr im Frühling auf; daher fiel es ihr besonders schwer, der undurchdringlichen Schwermut in diesem Haus die Stirn zu bieten, während sie durch die prachtvollen Korridore ging.
Auch an jenem Morgen war die Signora zurückgekommen, nachdem sie die Nacht außer Haus verbracht hatte, und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Der Professor hatte seine Räume nicht verlassen, das Tablett mit dem Essen vom Abend zuvor stand noch unberührt auf der Konsole aus lackiertem Holz vor seinem Arbeitszimmer; sie hatte höflich angeklopft, ohne seine Antwort zu verstehen. Es war ihr vorgekommen, als ob er schluchzte.
Wäre Teresa nach ihrer Meinung gefragt worden, so hätte sie gesagt, dass Kinder fehlten. Sie hatte ihre Geschwister aufgezogen, sie zu mehreren im Arm gehalten, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war; sie wusste, wie viel Freude einem Kinder bescherten. Dieses hier war ein Haus ohne Mutter, ohne Lächeln.
Die Tür zum Arbeitszimmer ging unvermittelt auf.
Der Mann, den Teresa sah, hatte nichts mit dem Ruggero Serra di Arpaja zu tun, den sie kannte: einem Mann, der sich seines hohen gesellschaftlichen Prestiges bewusst war. Der gestärkte Kragen saß schief, die Krawatte zu locker; seine Weste war nachlässig zugeknöpft, die zerzausten Haare ließen den Ansatz einer Glatze erkennen, die üblicherweise gut verdeckt war. Seine Augen blickten wie die eines Irren; sie waren von roten Äderchen durchzogen, geschwollen, traten aus den Augenhöhlen hervor. Er musste die ganze Nacht geweint
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