Der Fruehling des Commissario Ricciardi
würde, langsam auf, indem er die Tagesdecke und das saubere, jedoch abgenutzte Bettlaken umschlug. Auf der Matratze darunter war ein gelber Fleck.
»Sie war eben alt, die Arme«, sagte Maione, wie um sich zu entschuldigen, und sah den Kommissar dabei mit einem traurigen Lächeln an. Dann hob er die Matratze hoch. In der Mitte des Stützbalkens lag ein aus einem Taschentuch zusammengebundenes, kleines Päckchen. Maione nahm es in die Hand, Ricciardi trat näher. Es enthielt einige Geldscheine: hundertdreißig Lire, ein hübsches Sümmchen. Und einen Zettel, auf dem in der zögerlichen Schrift der Toten ein Name geschrieben stand: Nunzia .
Durchs geöffnete Fenster wehte eine Meeresbrise herein. Die Gardinen schaukelten träge vor und zurück.
Emma Serra di Arpaja unterdrückte einen Brechreiz: Die Luft schien ihr vom Geruch nach faulem Fisch und modrigen Algen erfüllt.
Sie lag auf dem Sofa und betrachtete die mit Fresken verzierte Decke. Die Zeit, in der sie dieses Haus geliebt hatte, lag lange zurück; sie verband damit bloß Ereignisse, doch keine Gefühle und erst recht keine Leidenschaften.
Mittlerweile verbrachte sie ohnehin fast ihre ganze Zeit außer Haus und wenn sie da war, schloss sie sich in ihren Gemächern ein. Bis es irgendwann Zeit für die Vorstellung war, die den Bediensteten galt, und sie sich in das kalte Schlafzimmer begab, um neben dem Unbekannten zu schlafen, den sie geheiratet hatte. Sofern sie nicht beschloss, gar nicht nach Hause zu kommen, ohne irgendwem, am allerwenigsten ihm, Rechenschaft darüber abzulegen.
Zuweilen empfand sie ihren Mann als eine Grenzlinie, eine Schranke zwischen sich und dem Glück. Dann wieder hatte sie Mitlied mit ihm, sah in ihm einen einsamen Menschen, der voller Schwermut alterte. Marisa Cacciottoli und die anderen Schlangen, die sie umgaben, hatten gut reden: Ein Mann von beneidenswerter gesellschaftlicher Stellung, ein Prestigeträger. Sie scherte sich kein bisschen darum, weder um das Prestige noch um die Stellung.
Wenn sie Attilio nicht kennengelernt hätte, dachte sie, hätte sie sich früher oder später mit dem leeren Leben, das die Damen in ihrem Umfeld führten, abgefunden. Wohltätigkeit, Canasta, Oper und Klatsch. Und ganz selteneinmal einen Liebhaber, einen der sonnengegerbten Fischer, die auf den Stränden entlang der Via Partenope ihr Lied sangen, oder einen abgezehrten Arbeiter aus Bagnoli. Bloß um Kraft für eine Zukunft zu sammeln, die nicht anders sein würde als die Vergangenheit.
Ihr allerdings war das Los zugefallen, die Liebe kennenzulernen.
Jeden Morgen wachte sie auf und zählte die Minuten, bis sie ihn im Theater oder an den einsamen Plätzen, die sie von Mal zu Mal auswählten, sehen, seine Hände, seinen Körper auf sich spüren würde. Sie wusste schon lange, dass ihr ohne ihn, seine göttliche Vollkommenheit, die Luft zum Atmen fehlen würde. Es war ihr nun nicht mehr möglich, sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
Als sie daran dachte, hielt sie ein Schluchzen zurück. Was würde sie nun tun? Ihre Gedanken wanderten zu der Alten. Verwünschte alte Frau! Absurderweise waren die Bilder Attilios und der Calise für sie eng miteinander verwoben.
Nach und nach war in ihr die Überzeugung gereift, die ihrer gesamten Existenz mittlerweile zugrunde lag: Sie konnte nicht ohne Attilio leben. Aber um mit ihm zu leben, brauchte sie die Karten.
Anhand der Könige, Asse und Königinnen las die Alte ab, wie jeder ihrer Tage verlaufen würde. »Im Theater werden sie dir deinen Schal stehlen«, und siehe da, der Schal war verschwunden. »Du wirst über eine Bettlerin stolpern«, und schon lag sie tatsächlich mit schmerzendem Knöchel am Boden. »Man wird dir auf der Straße Blumen schenken«, und so geschah es. »Das Auto wird mit einem Karren zusammenstoßen«, und genau das trat ein.Tausend kleine Beweise hatten sie gefügig gemacht: Sie tat überhaupt nichts mehr, was Carmela Calise ihr nicht mit ihren Karten befahl.
Sie war es gewesen, die ihr gesagt hatte, dass sie in jenem Theater voll schäbigen Volkes ihre große Liebe treffen würde.
Und sie hatte recht behalten.
Zuerst hatte Attilio ihr zugelächelt, dann hatte er sie am Ausgang angesprochen. Natürlich war er ihr auf der Bühne aufgefallen. Wie hätte seine Schönheit sie auch kalt lassen können? Bei der Erinnerung lächelte sie unwillkürlich, ihr Herz schlug heftig, wenn sie bloß daran dachte. Sie hatte sich in seinen Augen verloren, die sie an eine sternklare Nacht
Weitere Kostenlose Bücher