Der Fruehling des Commissario Ricciardi
nicht weit von ihnen entfernt eine Kaufmannswitwe, die sehr auf die Toten in ihrer Familie fixiert war. Die Kinder machten sich einen Spaß daraus, unter ihrem Fenster zu heulen, und sie hatte Nunzia schon öfter morgens am Gemüsewagen anvertraut, dass sie alles dafür geben würde, wenn sie noch ein einziges Mal mit ihrem Mann sprechen könnte. Einfach alles.
Nunzia sagte ihr, dass sie eine Frau kenne, die aus den Karten lesen konnte und in der Lage sei, ihr alles zu erzählen, was auch immer ihr jemand aus dem Jenseits mitteilen wolle, und so trafen sie eine Verabredung. Nach Jahren der Vertraulichkeiten wusste Nunzia ganz genau, welche Dinge die Frau hören wollte, und Carmela sagte sie ihr alle. Jedes Mal ein bisschen. Zuerst für fünf, dann sieben, dann zehn Lire pro Sitzung.
Als die Witwe starb, überglücklich, weil sie im Jenseits der frommen und verliebten Seele ihres Mannes begegnen würde, der ihr alle ihre Seitensprünge verziehen hatte, hatte das preisgekrönte Unternehmen Nunzia und Carmela bereits ein Dutzend treuer Kundinnen. Und sein Ruf verbreitete sich schnell.
Es funktionierte so: Jemand hörte von Carmela, wurde vorstellig und die Alte sagte der Person, dass sie beschäftigt sei und sie erst in der darauf folgenden Wocheempfangen könne. Sie notierte sich den Namen, Familiennamen, die Anschrift und den Grund des Besuchs: Liebe, Gesundheit, Geld. Jetzt war Nunzia am Zug. Dank des dichten Netzes an Pförtnerinnen, mobilen Friseurinnen, fliegenden Händlerinnen und des sich im Umlauf befindenden Klatschs hatte sie innerhalb einer Woche alle Informationen zusammen, die Carmela brauchte, um ihren Kunden – zu fünf Lire pro Auskunft – die Neuigkeiten mitzuteilen, die sie hören wollten.
Taten sie denn im Grunde etwas Schlimmes? Die Leute kamen traurig her und zogen glücklich davon. In gewisser Weise, meinte Nunzia, waren sie zwei Wohltäterinnen.
Der Name Carmela Calise hatte irgendwann die Runde gemacht und es kamen mehr Kunden, als sie empfangen konnte. Sie hatten auch begonnen, das Alltagsleben mit einzubeziehen, indem sie dem Schicksal dann und wann auf die Sprünge halfen, damit die Orakelsprüche der Karten glaubhafter wurden. So brachten sie zum Beispiel eine Bettlerin, die Begegnung mit einem Mann, einen harmlosen Unfall ins Spiel. Kleine, unwichtige Dinge, scheinbar zufällige Ereignisse, die allerdings eine wichtige Bestätigung darstellten, wenn man sie so sehen wollte. Darum kümmerte sich Nunzia mit Hilfe gelegentlicher Aushilfskräfte, die dafür bezahlt wurden und weiter keine Fragen stellten. Nicht immer waren Nachforschungen erforderlich; manchmal stellte die Alte Nunzia frei, weil manch einer, wie sie sagte, ihr selbst die Anhaltspunkte zur Verfügung stellte, die sie benötigte. Die Leute brauchten jemanden zum Reden.
Alles lief wie geschmiert. Sie verdienten mehr, als zur Verbesserung ihres Lebensstils notwendig war, wenn esnicht zu sehr auffallen sollte. So viel, dass beide nicht recht wussten, was sie mit dem Geld anfangen sollten. In Neapel wusste man allerdings, dass es nur eine Sache gab, die man mit überschüssigem Geld machen konnte: es gegen Zinsen verleihen.
Das Karussell hatte sich vor etwa anderthalb Jahren zu drehen begonnen: Da waren eine Frau, die Geld für die Aussteuer ihrer Tochter benötigte, ein Angestellter mit einer kranken Frau, ein Kaufmann in finanziellen Schwierigkeiten. Wenn sie Kapital und Zinsen nicht zurückerstattet hätten, hätten alle davon erfahren und die üble Nachrede hätte niemanden verschont: die beste Art, Außenstände einzutreiben.
So hatten sie ein kleines, wirksames System entwickelt, betrieben zwei nebeneinander existierende und sich ergänzende Geschäfte, die wunderbar miteinander zu vereinbaren waren. Es hatte nie irgendwelche Probleme gegeben. Bis zu dem Mord.
Nein, sie hatte keine Ahnung, was Carmela mit dem Geld machte. Darüber schwieg sie sich aus und hatte sich ihr diesbezüglich nie anvertraut. Nunzia selbst brachte alles auf ein Sparbuch, das auf den Namen ihrer Tochter lautete, bei der Bank in der Via Toledo; sie zahlte jedes Mal nur einen kleinen Betrag ein, um keinen Verdacht zu erregen. Als sie sie einmal danach gefragt hatte, hatte Carmela ihr gesagt, dass sie beide im Grunde gar nicht so verschieden seien, wie es schien.
Ihr fiel auch niemand ein, der sie getötet haben könnte.
Carmela stellte mit ihren Karten für niemanden eine Bedrohung dar. Sie verlangte von ihren Schuldnern nie, das geliehene
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