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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Hosentasche und hielt mit der anderen etwa in Hüfthöhe eine Zigarette.
    Von weitem sah Filomena zwei Arbeiter an ihm vorbeigehen, die sich so tief verneigten, dass sie fast vor dem Gangster krochen. Das alles bewirkten Angst und Macht. Sie wollte keine Angst mehr haben.
    Sie verlangsamte ihre Schritte ein wenig und dachte an Gaetano: Der Junge war schon seit gut zwei Stunden auf der Baustelle und balancierte mit Eimern voll Kies über Holzbalken in zwanzig Metern Höhe. Sie zitterte beim Gedanken an die Gefahr, der er sich aussetzte. Doch Arbeit war Arbeit – in diesen schwierigen Zeiten konnte man es sich nicht aussuchen. Filomena spürte die Wut in sich aufsteigen; es verbitterte sie, dass ihr Sohn, der fast noch ein Kind war, bereits ums Überleben kämpfen musste.
    Während sie gesenkten Blickes die Straße entlanglief, bereute sie es, nicht das Flittchen zu sein, als das man sie brandmarkte. Sie und ihr Sohn würden dann besser leben. Vielleicht sogar im Luxus schwelgen mit dem Geld eines Liebhabers. Und man würde sie respektieren. Geld bringt Respekt. Sie wäre dann keine Hure mehr, sondern eine Signora mit modisch geschnittenen Seidenkleidern. Hätte vielleicht ein Haus. Decken gegen die Kälte, Matratzen. Ihr Sohn könnte zur Schule gehen, etwas aus seiner Intelligenz machen.
    Wie viele Male schon hatte sie in den Nächten, in denen der eiskalte Wind an der Tür rüttelte, um in die Wohnung einzudringen, oder in denen man vor Hitze fast erstickte und die Mäuse zur Plage wurden, Tränen und Zweifel hinuntergeschluckt.
    Aber man wird dazu geboren, bestimmte Dinge zu tun. Sie dagegen war so wunderschön zur Welt gekommen, dass niemand glauben konnte, dass sie nur für ihren Sohn lebte und um irgendwie durchzukommen – im Andenken an einen Mann, den ein Hustenanfall und ein Schwall ausgespucktes Blut hinweggerafft hatten.
    Sie hatte fast Don Luigis Höhe erreicht. Er sah sie, warf die Zigarette weg und tat einen Schritt nach vorn, um ihr den Weg zu versperren. Sein Lächeln war wie immer selbstsicher, sein Blick durchdringend.
    »Da bist du ja, Filomena. Wie geht’s? Hab’ ich dir gefehlt? Ich war ein paar Tage geschäftlich unterwegs, in Sorrent. Aber ich habe die ganze Zeit über an dich gedacht, an die schönste Frau Neapels. Hast du es dir überlegt? Am besten komme ich zu dir. Heute Abend. Schick den Jungen zum Schlafen auf die Straße, du siehst ja, es ist nicht mehr kalt. Wir haben Frühling.«
    Filomena war stehen geblieben. Sie hielt den Kopf gesenkt, hielt mit der Hand das Tuch zusammen, das ihr Gesicht verdeckte. Die Zeit stand still.
    Don Luigi, der erbost darüber war, nicht gleich eine Antwort zu erhalten, riss ihr mit einer plötzlichen Bewegung den Schal vom Gesicht.
    »Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.«
    Filomena hob den Kopf und sah ihm, tränenüberströmt, direkt in die Augen. Dem Mann gefror das Lächeln. Er trat einen Schritt zurück, als ob er geohrfeigt worden wäre, stieß mit den Schultern gegen die Mauer, sein Hut fiel zu Boden und rollte ein paar Meter die Straße hinunter. Don Luigi führte seine zitternde Hand zum Mund, ein Stöhnen entfuhr ihm, es hörte sich an wie das einer erschrockenen Frau. Seine Macht war mit einem Schlag wie weggeblasen: Die Angst hatte die Seiten gewechselt.
    Langsam bedeckte Filomena ihren Kopf und ging weiter. Ein junger Bursche kam vorbei und blickte Don Luigi, der immer noch mit der Hand vorm Mund an der Wand lehnte, neugierig an.
    Er verbeugte sich nicht.

    Ricciardi und Maione warteten angesichts der in Tränen aufgelösten Nunzia geduldig ab. Bei ihrer Arbeit kam es oft vor, dass die Leute zu weinen anfingen.
    Als sie mit dem unter Carmelas Matratze gefundenen Bündelchen konfrontiert worden war, hatte die Pförtnerin auf ihre Art eine beeindruckende Vorstellung abgegeben.
    Zuerst hatten ihre Lippen leicht gezittert und das Zittern sich allmählich auf die Schultern übertragen. Dann folgte ein schwaches Stöhnen, fast ein Zischen, wie voneinem weit entfernten Zug. Als, wie bei einem Dampfkessel, der erforderliche Druck erreicht war, hatte sie sich, von heftigen Schluchzern geschüttelt, nach vorne auf den Tisch fallen lassen. Ihre Haut war rot gefleckt gewesen. Der Stuhl unter ihr knarrte machtlos und verzweifelt.
    Die beiden Polizisten blickten sich an und warteten, bis der Sturm vorüber sein würde.
    Nunzia hob schniefend den Kopf vom Tisch. Sie blickte zu Maione, wohl in der Hoffnung auf ein Taschentuch, Hilfe oder

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