Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Geld umgehend zurückzuzahlen, sondernließ ihnen Zeit und Raum. Stets verlängerte sie die Fristen, gegen einen kleinen Aufpreis selbstverständlich. Die Petrone kannte niemanden, der sie hätte töten können. Und dann auf solche Art. Unmöglich.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe«, sagte Ricciardi und trommelte dabei auf das schwarze Heft vor ihm auf dem Tisch, »kennen Sie also zu allen Namen hier drin den passenden Nachnamen, die Anschrift und die entsprechende Geschichte. Und zwar unabhängig davon, ob die Calise der betroffenen Person aus den Karten gelesen oder Geld geliehen hat. Und Sie könnten auch deren Träume benennen, die Sie gegen Bares gepflegt und herangezogen haben.«
Nunzia senkte, getroffen vom moralischen Urteil des Kommissars, den Blick.
»Ja. Alle.«
»Gut. Hör zu, Maione: Setz dich mit der Signora zusammen und lass dir die Namen und Anschriften aller Personen geben, die an dem Tag, bevor die Leiche gefunden wurde, bei der Calise waren. Sie sollen morgen nacheinander zu mir ins Büro kommen, damit wir sie uns ansehen können. Und wenn nichts dabei herauskommt, ziehen wir das Ganze noch mal von hinten auf. Bis wir den richtigen Traum gefunden haben, den kranken nämlich. Den Traum, der die Alte getötet hat. Ich gehe nach Hause. Ich hab’ Kopfweh.«
XXXII
An jenem Abend spürte Ricciardi stärker als sonst den Wunsch nach Normalität. Er brauchte einfache, gewöhnliche, maßvolleBewegungen. Den Kontakt zu alltäglichen Dingen: Stühlen, Tisch, Besteck, Essen. Natürliche Blicke, eine gewohnte Körpersprache.
Für diesen Tag hatte er genug von Tränen, Hassgefühlen und Tod. Er konnte es kaum abwarten, zu seinem Fenster zu kommen. Rosa, die es nicht gewohnt war, dass er so früh zurückkehrte, beschwichtigte er und sagte, dass er am nächsten Tag viel zu tun haben werde und sich gerne etwas ausruhen wolle.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite herrschte die Frau, die ihn verzaubert hatte, wie jeden Abend über ihr kleines Reich und hatte zu spülen begonnen. Ricciardi verfolgte die ihm vertrauten Bewegungen, wie man eine seiner Lieblingsplatten anhört, die man schon tausend Mal abgespielt hat: Er konnte ihre Handgriffe voraussehen, beobachtete jeden ihrer Schritte.
In Gedanken nannte er sie schon lange »mein Engel«. Worte, die er ihr niemals ins Gesicht gesagt hätte, höchstwahrscheinlich würde er sie nie auch nur ansprechen. Ich könnte dir nichts als meinen Schmerz geben, dachte er, die furchtbare Bürde, die ich mit mir herumschleppe.
Nie hätte er es gewagt, sich ihrer Haustür zu nähern oder Rosa darum zu bitten, sich nach ihr zu erkundigen, und erst recht nicht, mit irgendeinem Klatschmaul des Viertels darüber zu sprechen. Unvorstellbar bei jemandem, dessen Beruf es ist, Ermittlungen zum Leben Fremder anzustellen.
Es machte ihm aber nichts aus. Er zog es vor, seinen Vorstellungen und Träumen nachzuhängen, Enrica aus der Ferne zu beobachten. Das eine Mal, als sie sich auf derStraße getroffen hatten, war er davongerannt; und wenn es wieder geschehen würde, würde er erneut davonrennen.
Während er sich von Enricas maßvollen Bewegungen und ihrem glanzvollen Alltag verzaubern ließ, dachte Ricciardi an Carmela Calise und Nunzia Petrone, die Traumverkäuferinnen. Wie verabscheuenswert war es doch, die Menschen dazu zu bringen, das Unmögliche für möglich zu halten. Die Pförtnerin hatte gesagt, dass die Leute traurig herkamen und glücklich wieder weggingen. Doch welches Glück konnte sich auf einen Betrug stützen? Du mit deinen klaren, besonnenen Bewegungen würdest gewiss nicht zulassen, dass eine Betrügerin deine Träume mit ihren absurden Aufführungen befleckt. Deine Träume sind wie du, ganz sicher leise, zart und ruhig. Du würdest sicher nicht zu einer Kartenlegerin gehen, um sie deuten zu lassen.
Noch lieber, als ich dich küssen und im Arm halten würde, wäre ich in deinen Träumen, um für dich über sie zu wachen.
Es war schon spät, als Maione die Wohnung der Calise verließ. Bei sich trug er die Liste der Personen, die sie am letzten Tag ihres Lebens aufgesucht hatten. Ihre Namen, Träume und Anschriften. Er verfügte über die Eigenschaften der Leute und ihrer Familien, wusste, was sie dazu getrieben hatte, um ein Wort der Alten zu betteln und es ihr mit Gold aufzuwiegen.
Der Brigadiere verstand das nicht. Er konnte sich nicht erklären, warum man jemand anderen so teuer bezahlte, um sich aus den Karten lesen zu lassen. Waren die
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