Der Fruehling des Commissario Ricciardi
zumindest einen mitleidigen Blick, aber er sah sie ausdruckslos an. Daraufhin wandte sie ihren Blick Ricciardi zu, schaute in jene grünen, klaren Augen, in denen man zu ertrinken schien.
»Donna Carmela half mir ab und an ein wenig aus. Sie mochte Antonietta, das arme Ding. Also schenkte sie ihr manchmal was, Kleinigkeiten, Geld für Bonbons.«
Maione nahm das Bündel Geldscheine aus der anderen Hosentasche.
»Mamma mia, na ihre Tochter scheint ja eine Riesenmenge Bonbons zu verdrücken! Dafür scheint sie mir aber recht dürr zu sein. Sehen Sie mal her, zehn, zwanzig, fünfzig ... hundertdreißig Lire. Wie viele Bonbons kriegt man dafür, zwei ganze Karren voll?«
Die Frau blickte sich um, ihre zu Schlitzen verengten Augen suchten Hilfe. Sie saß in der Falle, das war ihr bewusst, doch sie war noch nicht bereit, sich geschlagen zu geben.
Ricciardi wartete geduldig wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes. Es war bloß eine Frage der Zeit. Schon bald würde Nunzia mit dem Rücken zur Wand stehen und den Schleier eines weiteren Teils der Geschichte lüften. Er wardie ganze Zeit überzeugt davon gewesen, dass nicht sie die Alte umgebracht hatte, und jetzt, da er wusste, dass sie ihr sogar Geld gegeben hatte, waren auch seine letzten Zweifel zerstreut. Der schnöde Mammon: Ein guter Grund, jemanden zu töten – oder zu beweinen. Der Schmerz der Frau war aufrichtig. Sie hatte viel verloren.
Aus ihrer Ecke krächzte die Alte mit dem gebrochenen Genick ihr Sprichwort, in dem es um Haben und Geben ging. Ricciardi fragte sie im Geiste, hat dein Mörder dir etwas geschuldet? War er wütend, verzweifelt, beleidigt? Oder vielleicht verliebt? In all ihrer Hässlichkeit hatte die von der Arthritis verunstaltete Frau es doch geschafft, eine Gefühlsregung hervorzurufen, die so stark war, dass sie dermaßen brutal getötet wurde.
Ricciardi war stets der Ansicht gewesen, dass Hunger und Liebe und deren Auswüchse der Ursprung der allermeisten Verbrechen waren. Sie lagen in der Luft, schwebten irgendwo um die Toten herum, die nach Gerechtigkeit verlangten, und um den Hass der Lebenden, die blieben. Was war es diesmal, das hinter den furchtbaren Schlägen steckte, mit denen Carmela Calise niedergemetzelt worden war? Hunger oder Liebe? Oder beides?
Nunzia richtete sich auf, sie nahm wieder einen stolzen Ausdruck an. Der Stuhl unter ihr quietschte kurz.
»Wer sagt Ihnen denn, dass das Geld für mich bestimmt war? Auf ein Taschentuch kann jeder schreiben, was er will. Wenn Sie mich fragen, haben Sie keinerlei Beweise und suchen bloß jemandem, dem Sie die Schuld in die Schuhe schieben können.«
Auch diese Reaktion war Ricciardi und Maione bekannt. Es waren die letzten Zuckungen, eine letzte Auflehnung gegen das Unvermeidbare.
»Ganz richtig, Petrone. Sie haben recht, Sie sind nicht auf den Kopf gefallen. Wir haben keine Beweise und brauchen einen Schuldigen. Was sollen wir sonst unseren Vorgesetzten sagen? Das Einzige, was uns vorliegt, ist dieses Taschentuch mit dem Geld für die Bonbons. Wollen Sie wissen, was wir tun werden? Wir stecken einfach Sie ins Gefängnis. Wir brauchen nur zu sagen, dass Sie die Calise erpresst haben. Und damit hat sich der Fall erledigt.«
Ricciardi veränderte weder seinen Ton noch den Gesichtsausdruck.
»Das würden Sie sich wirklich wagen? Und meine Tochter?«
Ricciardi zuckte mit den Schultern.
»Für solche Fälle gibt es hervorragende Einrichtungen. Es wird ihr an nichts fehlen.«
Nunzia legte ihre Hand aufs Gesicht.
»Na gut, Commissario. Ich sage Ihnen alles, was ich weiß.«
XXXI
Es hatte vor etwa fünf Jahren begonnen, als Nunzias Tochter noch klein war. Die alte Calise hatte durch ihre Arthritis so große Schmerzen, dass sie die kleinen Schneiderarbeiten, mit denen sie sich gerade so über Wasser hielt, nicht mehr machen konnte. An einem schwülen Sommerabend hatten die beiden zusammen auf der Straße gesessen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, und sich gegenseitig ihr Leid geklagt. Carmela hatte Nunzia erzählt, dass sie als Kind das Kartenlesen gelernt hatte. Ihre Mutter hatte esihr beigebracht, und die wiederum hatte es von ihrer Mutter gelernt und so weiter. Auf diese Weise war das Wissen schon seit Urzeiten, als man auf den Klippen von Mergellina noch die Sirenen singen hörte, von Generation zu Generation weitergegeben worden. Nunzia konnte sich nicht mehr erinnern, wer von ihnen den Einfall gehabt hatte, einen kleinen Schwindel auszuhecken.
Zu jener Zeit wohnte
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