Der Fruehling des Commissario Ricciardi
leuchtete, schaute sie gelassen und ungerührt an.
Filomena strich sich mit den Fingerspitzen über die Narbe, folgte den scharfen und erhabenen Konturen. Dann streckte sie die Hand nach dem alten abgebrochenenSpiegelstück aus, das sie benutzte, wenn sie sich kämmte. Sie schaute sich lange darin an. Danach legte sie den Spiegel wieder hin und stellte sich neben ihren Sohn, um ihn zu küssen. Gaetano schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Rituccia stand auf, näherte sich Filomena und küsste sie feierlich auf den Schnitt.
Maione lief in Ricciardis Büro auf und ab und wetterte laut gegen Garzo, während der Kommissar stumm vor dem Fenster stand.
»Haben Sie gehört, was dieser Narr gesagt hat, der Blödmann, der Dämlack? Nachdem ich schon geglaubt hatte, er sei eingeschlafen, lässt er diesen ganzen Redeschwall los, dass man ihn für den Advokaten des Teufels hätte halten können! Das ist doch verrückt! Und klar, weil der Professor aus Santa Lucia steinreich ist, kann er nicht schuldig sein, aber der arme Iodice, Gott hab ihn selig, ein elender kleiner Pizzabäcker, der am Hungertuch nagte, der war’s natürlich! Obwohl wir es doch von Teresa Scognamiglio wissen, die alles mitangehört hat!«
Ricciardi sprach, ohne den Blick von der Piazza unter ihnen abzuwenden.
»Ein Dummkopf mag er ja sein und sicherlich davon überzeugt, dass es der arme Iodice war; aber was er gesagt hat, war trotzdem kein Blödsinn. Tatsächlich liegen uns in beiden Fällen nur Indizien vor. Einen guten Grund, die Calise umzubringen, hatten beide. Genauso die Gelegenheit dazu. Tot haben sie ebenfalls beide gesehen; sowohl die Schuhe des Professors als auch Iodices Wechsel waren blutverschmiert. Wer sie allerdings hat sterben sehen, können wir nicht wissen.«
Maione blieb stehen. Er wollte sich den offensichtlichen Tatsachen nicht geschlagen geben.
»Das stimmt, aber Serra kann sich verteidigen und Iodice nicht, Commissario. Bevor wir einen Toten verurteilen, müssen wir doch von der Unschuld des Lebenden überzeugt sein, oder nicht?«
Ricciardi schwieg eine kurze Weile. Er sah zum Fenster heraus.
»Hast du schon mal überlegt, wie viele Dinge man von einem Fenster aus sehen kann? Man sieht das Leben. Und den Tod. Aber man kann nur zusehen, ohne teilzunehmen. Und wer ist dieser Zuschauer? Weißt du es?«
Maione wartete darauf, was kam. Er wusste, dass von ihm keine Antwort erwartet wurde.
»Der Zuschauer ist der, der nicht selbst lebt. Er kann nur das Leben der anderen verstreichen sehen und durch die anderen leben. Wer nur zusieht, schafft es nicht, selbst zu leben.«
Maione hörte ihm zu. Ihm wurde klar, dass Ricciardi nicht mehr von der Calise, von Garzo, Iodice oder Serra di Arpaja sprach, sondern von sich selbst.
Obwohl der Brigadiere nicht ausgesprochen feinfühlig war, merkte er, dass die Gemütslage des Kommissars, der ohnehin melancholisch war, nach den Befragungen vor zwei Tagen einen Tiefpunkt erreicht hatte. Als er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass die Zeugin, Enrica Colombo, in der Via Santa Teresa wohnte, also in derselben Straße wie Ricciardi. Vielleicht kannten sie sich. Das hätte jedenfalls den merkwürdigen Verlauf der Befragung erklärt, die er hatte führen müssen, weil Ricciardi, anstatt seine Fragen zu stellen, einfach schwieg.
Der Brigadiere war auf der Straße groß geworden, er wusste, wann Worte überflüssig waren. Es gab auch nichts zu sagen; was ihm blieb, war, seinen Freund und Vorgesetzten aus gebotener Entfernung zu bemitleiden.
LIV
Ricciardi wartete an seinem angestammten kleinen Tisch im Gran Café Gambrinus.
Garzo hatte ihm nur wenig Zeit gegeben und ihn dadurch gezwungen, etwas Gewagtes zu tun. Der Kommissar plante gern, er überließ die Dinge möglichst nicht dem Zufall. Er wusste, wie wichtig ein strategisches Vorgehen in seinem Beruf war. Aber diesmal blieb ihm wirklich sehr wenig Zeit.
Also hatte er bei den Serra di Arpaja angerufen. Eine Verzweiflungstat gewissermaßen, ein letzter Versuch, bevor er aufgeben würde.
Aber auch Verzweiflungstaten können – ganz selten – zum Ziel führen, denn er hatte ausgerechnet Teresa am Telefon gehabt, die ihm gesagt hatte, die Signora sei zu Hause und sie würde versuchen, das Gespräch an sie weiterzugeben. Das Mädchen würde Ruggero mit Sicherheit nichts von dem Anruf erzählen. Und Emma war damit einverstanden gewesen, sich mit ihm zu treffen. Mut will belohnt sein.
Ricciardi beobachtete durch die
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