Der Frühling - Hyddenworld ; 1
an, denn inzwischen schüttete es wie aus Kübeln.
Clare hatte dunkles Haar und ein fröhliches Gesicht. Katherine war im Unterschied zu ihrer Mutter blond, aber groß für ihr Alter und dünn, worin sie Richard nachschlug. Sie trug eine Brille, mit der sie zu ernst für ihr zartes Alter aussah.
»Ihr Mann wird in ein paar Minuten hier sein«, sagte eine Empfangsdame zu Clare. »Am besten, Sie warten hier im Trockenen auf ihn. Sie werden nur noch nasser, wenn Sie zum Auto zurücklaufen.« Im Warteraum waren kaum noch Patienten, bis auf die wenigen Unverwüstlichen, die sich vom Wetter nicht hatten abschrecken lassen. Sie setzten sich, und Katherine starrte aus dem Fenster in den Regen und dann hinauf zu dem sonderbaren schwarz-lila Himmel. Ihnen gegenüber saß ein Junge ungefähr in ihrem Alter und tat dasselbe.
Die beiden Kinder musterten einander. Katherine lächelte den Jungenverhalten an, und er erwiderte das Lächeln, als kenne er sie. Sie schaute weg, noch nicht bereit, Freundschaft zu schließen. Er war dunkelhaarig, stämmig, strahlte Selbstsicherheit, aber auch vorsichtige Zurückhaltung aus. Auf dem Boden neben seinem Stuhl stand ein hübscher kleiner Rucksack aus dunklem Leder.
Ihre kurzen Blickkontakte häuften sich, als wache er irgendwie über sie.
Clare beobachtete diesen Austausch mit Interesse. Katherine schloss nicht leicht Freundschaft, und dass sie ein anderes Kind anlächelte, noch dazu ein wildfremdes, war ungewöhnlich.
Aber da war noch etwas anderes.
Der Junge hatte bereits am Vormittag auf diesem Stuhl gesessen, als Clare kurz hereingeschaut hatte, um wegen ihrer Fahrt mit Richard zu reden.
Getrieben von jenem natürlichen Mitgefühl, das jede Mutter mit einem Kind empfindet, das so lange allein gelassen wird, stand sie auf und erkundigte sich bei einer Frau an der Rezeption nach ihm.
»Er wartete darauf, dass er abgeholt und nach Süden gebracht wird«, erklärte die Frau. »Wir passen auf ihn auf, bis seine neue Betreuerin hier ist. Sie kommt den weiten Weg aus London, aber Gewitter haben ein Verkehrschaos verursacht. Vielleicht ist das der Grund für das Durcheinander.«
»Was für ein Durcheinander?«
»Die Dame, die ihn hergebracht hat, musste wieder weg, wollte aber wiederkommen und nachsehen, ob er auch wirklich abgeholt wurde. Nur ist sie bis jetzt nicht wieder aufgetaucht, und viele Handys funktionieren nicht … Aber dem Jungen geht es allem Anschein nach gut. Er war sehr brav.«
»In welchen Stadtteil von London soll er denn gebracht werden?«
»Seine Betreuerin ist aus Wembley, glaube ich … Aber sie hat sich nicht wieder gemeldet.«
»Wembley? Wir fahren ganz in die Nähe«, platzte Clare heraus, bevor sie sich bremsen konnte.
Sie drehte sich nach dem Jungen um und sah ihn sich genauer an.
Eine gewisse Wachsamkeit war ihr bereits an ihm aufgefallen, aber er strahlte auch eine Charakterstärke aus, die an Trotz grenzte. Aus ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit kannte sie diese Kombination bei Kindern,die von der Gesellschaft schon so häufig im Stich gelassen worden waren, dass es ihnen schwerfiel, wieder Vertrauen in Menschen oder Verhältnisse zu fassen. Aber er hatte noch etwas anderes an sich, etwas wirklich Faszinierendes. Sie lächelte ihn an, und er lächelte schüchtern zurück.
Als Richard endlich aus seiner Praxis kam, hatte Clare schon ihren Entschluss gefasst. Sie schlug vor, den Jungen mit nach Süden zu nehmen.
»Ich bin nicht die zuständige Betreuerin«, erwiderte Richard sachlich. »Sie muss das entscheiden.«
Clare schilderte ihm die Situation.
Richard musterte den Jungen unauffällig und kam bald zu demselben Ergebnis wie Clare – dass er jetzt nicht im Stich gelassen werden durfte, sondern jemanden brauchte, der sich um ihn kümmerte. Richard musste nicht weiter überredet werden. Wenn die Frau, die ihn abholen sollte, nicht auftauchte, konnte er den Jungen nicht einfach den ganzen Tag in diesem Wartezimmer sitzen lassen, ohne etwas zu unternehmen.
»Okay, mal sehen, was sich machen lässt. Aber das wird uns Zeit kosten. Wissen wir überhaupt, wie er heißt?«
»Jack«, antwortete die Empfangsdame, die ihr Gespräch mitverfolgt hatte.
»Komm«, sagte Clare zu Katherine. »Wir wollen versuchen, mit ihm zu reden, solange Daddy etwas klärt.«
Richard Shore telefonierte, zuerst innerhalb des Hauses, dann nach draußen, wobei er die Nummer auf der Karte anrief, die von der Frau, die den Jungen hergebracht hatte, am Empfang hinterlegt worden
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