Der Frühling - Hyddenworld ; 1
Liebe.
Jetzt, in jüngerer Zeit, wurde sie von unausgesprochenen Sehnsüchten getrieben, die sie ruhelos und reizbar machten. Die Wahrheit war, dass sie von Jack etwas wollte, das sie nicht in Worte fassen konnte, ebenso wenig wie er, einerlei wie lange sie miteinander sprachen.
An diesem Morgen lagen die Englisch- und Geschichtshefte, die sie für ihre Prüfungen im kommenden Juni durcharbeitete, vor ihr auf dem Tisch. Seit nunmehr über zwei Jahren, seit ihre Mutter das Haus nicht mehr verlassen konnte und Katherine neben Mrs. Foale zu ihrer wichtigsten Pflegerin geworden war, durfte sie per Fernstudium am Unterricht teilnehmen. Hin und wieder besuchte sie die Schule in Wantage zwar noch, um sich zu vergewissern, dass sie im Stoff noch auf dem Laufenden war, aber von ihren Altergenossen war sie zwangsläufig isoliert. Eine sterbenskranke Mutter zu haben machte es auch nicht leichter, Freunde zu finden, denn bei allem Mitgefühl wussten andere Kinder einfach nicht, wie sie damit umgehen sollten. Doch selbst wenn sie es gewusst hätten, wäre Katherine unter denSchülern nicht besonders beliebt gewesen. Sie war schon groß für ihr Alter und mied Cliquen. Außerdem wusste sie zu viel und zog Bücher menschlicher Gesellschaft vor. Und sie hatte ständig diesen angestrengten Blick, der Menschen argwöhnisch machte.
Im ersten Schuljahr hatte ihr dieses Gefühl des Ausgegrenztseins nicht viel ausgemacht, da sie sich sofort mit einem pummeligen, rothaarigen und sommersprossigen Mädchen namens Samantha Fullerton zusammengetan hatte. Sam liebte wie sie Geschichten, hatte unerfüllbare Träume, und was das Beste war: Sie besaß den Mut und die Kraft, sich gegen die Mehrheit zu stellen, und war immun gegen Gruppenzwang und weibliche Bosheit. Er sagte viel über Sams Eltern aus, dass ihre Tochter so selbstsicher war und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand.
Sam war die erste und einzige Schulfreundin, die Katherine übers Wochenende nach Woolstone House einlud, was den beiden lange Spaziergänge auf dem White Horse Hill und vertraute Gespräche bis tief in die Nacht ermöglichte.
Dann, nach der Hälfte ihres zweiten gemeinsamen Schuljahrs, siedelte Sams Vater mit der Familie nach Hongkong über. Innerhalb von Wochen war sie fort, und Katherine war wieder allein.
Jetzt schien es zu spät zu sein, sich an der Schule einen größeren Freundeskreis aufzubauen, und so flüchtete sie sich noch mehr in die Bücher.
Dann, fast ein Jahr später, nachdem sie aus Hongkong nur ein paar knallbunte Postkarten erhalten hatte, traf der erste richtige Brief von Sam ein. Freundschaftlich im Ton, mitteilsam, voller Neuigkeiten, voller Sehnsucht nach England, voller Sorge um Clare. Ein Brief, aus dem auch ein wenig Einsamkeit klang.
Katherine schrieb umgehend zurück, und die Freundschaft, die nie ganz eingeschlafen war, erwachte zu neuem Leben.
Im letzten Jahr zu Ostern, kurz vor der Abschlussprüfung für die Sekundarstufe, kam Samantha mit ihrem Vater nach England und durfte ein paar Tage in Woolstone House verbringen. Es war, als wären die beiden Mädchen nie getrennt gewesen, nicht einen Moment, obwohl jede deutlich anders aussah, als die andere sie in Erinnerung hatte.
Es waren die glücklichsten Tage in Katherines Jugend.
In dieser Zeit sprach Katherine zum ersten Mal davon, dass sie sich Jack auf sonderbare Weise eng verbunden fühlte, so verworren und unklar dieses Gefühl auch sein mochte. Ob es daher rührte, dass sie in seiner Schuld stand, weil er ihr das Leben gerettet hatte? Oder ging es tiefer? Manchmal war ihr, als seien sie vom Schicksal füreinander bestimmt. Doch sie wusste auch, dass dies möglicherweise nur eine romantische Träumerei war.
»Vielleicht sind Schicksal und Träume dasselbe«, schrieb Sam.
»… und vielleicht empfindet er genauso«, antwortete Katherine.
Darauf Sam: »Du wirst es nie erfahren, wenn du ihn nicht fragst. Mum sagt, dass Männer immer einen Schubs brauchen.«
Katherine rang tagelang mit sich.
»Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen«, mailte sie Sam schließlich. »Und ich wette, er will gar nichts von mir wissen, sonst hätte er doch geschrieben. Ich wette, er hat inzwischen jede Menge andere Freunde. Genauer gesagt, Freundinnen.« Jack, so errechnete sie, musste inzwischen sechzehn sein.
»Schreib ihm«, riet ihr Sam. Zu der Zeit lebte ihre Familie bereits in Sydney.
Katherine tat es nicht, aber ihre Gedanken an Jack bekamen eine neue Richtung.
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