Der Frühling - Hyddenworld ; 1

ihm entgegen. Er ergriff sie, als sei es das Natürlichste von der Welt.
    »Hallo, Clare …«, erwiderte er leise, unsicher, was er sagen sollte.
    Sie hielt seine Hand fest und schaute zu ihm auf.
    Dann flüsterte sie: »Näher.«
    Er beugte sich tiefer zu ihr hinunter, noch tiefer, und dann tat sie etwas, das noch nie jemand getan hatte. Sie hob ganz langsam diefreie Hand und legte sie ihm an die Wange, dann ließ sie seine Hand los und tat mit ihrer anderen dasselbe. So hielt sie sein Gesicht, und ihr war, als nehme sie es durch ihre Berührung in Besitz.
    Ihre Augen schimmerten wie dunkle Teiche und hießen ihn lächelnd willkommen.
    »Danke, dass du gekommen bist«, murmelte sie sehr leise. »Danke, Jack.«
    Das Nächste, was ihm auffiel, war nicht die knochige Kälte ihrer Berührung oder die Eindringlichkeit ihres Blicks, sondern ein fortwährendes Klirren von Glas, das wie das ferne Perlen einer Klangkaskade aus dem Garten hereindrang.
    Er drehte sich leicht zur offenen Tür hin, um festzustellen, was die Quelle dieses Geräusches war, vermochte aber nichts zu entdecken. »Ist das nicht schön?«, flüsterte sie.
    Er nickte. »Was ist es?«
    »Windspiele«, antwortete sie. »Sie schützen uns und sorgen für unsere Sicherheit. Sie sind wie Spiegelbilder unserer für immer sich verbindenden Leben.«
    Sie drehte den Kopf ein wenig in Richtung Außenwelt, dann schloss sie die Augen, lauschte einfach nur und seufzte.
    Dann sagte sie etwas Sonderbares.
    »Du wirst bald verstehen, was es mit den Windspielen auf sich hat, Jack. Ich könnte es dir erklären, aber es ist besser, du findest es selbst heraus.«
    Jack überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. Er wollte sie nicht von oben herab behandeln oder aufmuntern, aber Katherine hatte ihn vor ihren »Wahnvorstellungen« gewarnt, und das hatte seine Neugier geweckt. Er wollte mehr erfahren. Es gab da nämlich etwas, das er draußen auf dem Flur nicht gesagt hatte, etwas, das er noch nie jemandem gesagt hatte. In seinen Träumen und Albträumen erschien ihm oft der Unfallort. Meist versuchte er, zu Katherine zu gelangen, konnte aber nicht. Bei anderen Gelegenheiten stand sie einfach nur da, und er lag brennend am Boden, und Leute halfen ihm. Es hatte Jahre gedauert, bis er dahinterkam, was mit diesen Leuten nicht stimmte. Zwei von ihnen waren eindeutig Erwachsene, denn sie trugen Bärte, aber keiner war größer als Katherine.
Kleine Leute.
    »Wovor schützen sie uns?«, fragte er Clare mit ruhiger Stimme.
    Katherine, die am Fußende des Bettes saß, zuckte zusammen.
    »Mum wollte damit nicht sagen …«
    Jack hob die Hand, und sie verstummte.
    »Ich weiß es nicht, Jack«, hauchte Clare. »Ich weiß nur, dass ich mich sicherer fühle, wenn ich sie höre.«
    Die Windspiele klirrten im Hintergrund.
    »Sind sie nicht schön?«, fragte sie.
    Er nickte.
    »Du warst noch kränker als ich. Alles wird intensiver, wenn man krank ist, erscheint einem schlimmer oder besser, als es in Wirklichkeit ist. Kranke, so heißt es, sind der anderen Seite manchmal näher. Hast du das gewusst?«
    »Nein«, antwortete er und schüttelte den Kopf.
    Katherine beruhigte sich wieder. Es gefiel ihr, wie Jack mit ihrer Mutter sprach, wie er ihr zuhörte.
    Sie nutzte die Gelegenheit und sah ihn sich zum ersten Mal richtig an. Er blickte ziemlich grimmig drein und hatte den Kopf ganz leicht seitlich vorgestreckt. Über dem Kragen war das Narbengewebe an seinem Hals zu sehen, rauh und hässlich.
    Das hast du dir geholt,
dachte sie bei sich,
als du mir das Leben gerettet hast.
    Eine von Clares Händen fiel aufs Bett zurück. Die andere wanderte weiter bis zu Jacks Nacken, strich über Stellen, an denen er sich verbrannt hatte, verweilte und befühlte, streichelte die rauhe, narbige Haut.
    Auch das hatte noch nie jemand getan, und wenn es jemand versucht hatte, war er stets zurückgewichen. Aber nicht jetzt, denn ihre Berührung war wie Balsam.
    Katherine legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie wird jetzt schlafen«, flüsterte sie. »Sie ist nur deinetwegen wach geblieben. Jetzt wird sie schlafen.«
    Er blickte hinter sich zu Katherine, dann wieder zu ihrer Mutter und schließlich an beiden vorbei in den Garten hinaus.
    Die Wolken leuchteten orangerot in der späten Nachmittagssonne, die in den Wipfeln der beiden Koniferen stand und sie in Brand zu setzen schien. Hinter den Bäumen war die dunkle Erhebung eines steilen Kreidehügels zu sehen. Im nächsten Moment huschte ein gleißendheller