Der Fuenf-Minuten-Philosoph
anstreben, wenn wir uns in die »unbereiste Welt«, wie der Dichter Alfred Tennyson (1809–1892) sie nannte, hinauswagen und das Risiko eingehen, das der Schriftsteller Henry Miller (1891–1980) so umrissen hat: »Jedes Wachstum ist ein Sprung ins Dunkel, ein spontaner, unvorbereiteter Akt ohne den Nutzen der Erfahrung.«
Können wir uns ändern?
Der innere Fixpunkt in uns, unser »wahres Ich«, ändert sich nicht. In der östlichen Philosophie spiegelt sich dieses Konzept im Atman wieder, demunzerstörbaren Selbst, der ewigen Essenz,die, wie wir gesehen haben, unter dem abgelagerten Sediment von Erfahrung und Konditionierung verborgen liegt. Dass es etwas in uns gibt, das Bestand haben und unveränderlich sein soll, ist beruhigend, ganz gleich, ob wir uns dieses Etwas zeitlich begrenzt oder ewig vorstellen. Doch ist das Selbst, mit dem wir der Welt entgegentreten, in anderer Hinsicht dem unvermeidlichen steten Wandel unterworfen. »Weil die Dinge so sind, wie sie sind«, so fasste es der Dramatiker Bertolt Brecht (1898–1956) zusammen, »werden die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind.« Wandel erscheint unvermeidlich: Alles – wir selbst, die anderen, unser Planet und das gesamte sich ausdehnende Universum – befindet sich immerwährend im Fluss. Während wir viele Veränderungen, die wir durchlaufen, selbst planen, haben wir über manche Einflüsse und Zwänge, unter denen wir uns ebenfalls verändern, keinerlei Kontrolle. Und in beiden Fällen widerstrebt uns der Wandel zuweilen, so notwendig er auch sein mag.
----
»Sei stets unzufrieden mit dem, was du bist, wenn du erreichen willst, was du noch nicht bist. Denn wo du mit dir zufrieden bist, dort bleibst du im Rückstand … Füge stets hinzu, laufe immerzu, mache ständig Fortschritte …«
Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.)
----
Bis zu welchem Grad, so können wir fragen, bin ich dieselbe Person, die meinen Körper vor vielen Jahren beseelte? Der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972) sagte zu Recht: »Es gibt keinen Grund, warum ein Buch demselben Menschen mit 18 und mit 48 Jahren gefallen sollte.« Wie wir die oben gestellte Frage auch beantworten: Wir haben wahrscheinlich auch dann noch das gleiche Gefühl von Selbstidentität, wenn wir uns in vielerlei Hinsicht verändert haben. Einige Veränderungen, so ein Wechsel unserer politischen oder religiösen Bindungen, mögen radikal sein, während andere nur äußeren Umständen wie dem Tod eines Angehörigen, einer zerbrochenen Ehe oder einer Auswanderung geschuldet sind. Aber trotz solcher Veränderungen bleibt das Gefühl für das »Ich« doch gleich.
Subtiler und wohl bedeutsamer sind Veränderungen unseres Charakters: Auf lange Sicht sind sie es, die unseren Freunden und unserer Familie am ehesten auffallen und die auch unser eigenes Bild von uns selbst verändern. Alle oben erwähnten Veränderungen könnten durchaus von einem charakterlichen Wandel herrühren. Die Frage, bis zu welchem Grad wir uns verändern und negative Charaktereigenschaften wie kriminelle Antriebe oder eine Neigung zum Alkoholismus überwinden können, beschäftigt seit längster Zeit die Psychologen und Soziologen. Um feste Bestandteile unserer Persönlichkeit zu verändern, brauchen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit professionellen Beistand, während wir Haltungen wie Ungeduld, Kritiksucht oder Rechthaberei überwinden können, je nach dem, ob wir sie überwinden wollen und auch bereit sind, den Wunsch in die Tat umzusetzen. Jede Veränderung hat ihren Preis: Auch wenn »Wachstum der einzige Hinweis auf Leben« ist, wie es der englische Theologe und Kardinal Henry Newman (1801–1890) ausdrückte, kann Wachstum durchaus mit schmerzlicher Erfahrung verbunden sein.
Der französische Schriftsteller Anatole France (1844–1924) glaubte gar, das Leben sei ein Prozess aus mehrfachem Geborenwerden und Sterben: »Alle Veränderungen, auch die ersehntesten, haben schwermütige Aspekte. Denn was wir mit ihnen hinter uns lassen, ist ein Teil von uns. Wir müssen in einem Leben sterben, um ins nächste einzutreten.«
Wie sehr unterscheide ich mich von meinem oder meiner Nächsten?
Wie Verbrecher dieser Tage erkennen müssen, kennzeichnet jeden von uns ein unverwechselbares genetisches Profil in Form unserer DNS. Sieht man von der Fast-Identität eineiiger Zwillinge oder den ererbten Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie ab, so zeigen Menschen ein breites Spektrum körperlicherUnterschiede. Noch
Weitere Kostenlose Bücher