Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
geradeaus.
Ich lebe schon lange in Washington, und mir ist klar, was Leute mit Schweigen anstellen können. Die CIA benutzt Schweigen als Verhörtechnik. Sie wissen, dass die Leute umso schneller zu reden anfangen, je länger man selbst schweigt. Reporter machen das auch. Also, wenn Marshall dieses Spiel spielen will, wird er herausfinden, dass es keinen geduldigeren Menschen gibt oder einen, der sich in der Stille wohler fühlt, als einen Archivar.
Meine Ohren knacken, als wir auf der fünften unterirdischen Ebene ankommen. Als Marshall auf einen der vielen freien Parkplätze fährt, frage ich mich, warum er uns so weit hinuntergebracht hat. Denn wer auch sonst noch in diesem Gebäude wohnen mag, die meisten Bewohner scheinen weg zu sein.
Marshall schweigt immer noch, steigt aus und sieht mich mit seinem bleichen, groben Gesicht durch die Windschutzscheibe an. Ich folge ihm, ebenfalls schweigend, als er eine rote Feuertür aus Metall aufschiebt. Wir betreten einen kahlen, von grellen Neonröhren erhellten Raum mit Zementboden und -wänden. Darin befindet sich ein Aufzug aus matt schimmerndem Metall. Marshall hat mir den Rücken zugekehrt, und als ich neben ihn trete, sehe ich, dass er kleiner ist als ich.
In meinem Gedächtnis war er immer ein paar Zentimeter größerals ich, und die Perspektive meiner Erinnerungen verwirrt sich, wie es passiert, wenn man nach langer Zeit nach Hause kommt und merkt, wie winzig das Kinderzimmer heute aussieht.
»Woher wusstest du, dass ich dich gesucht habe?«, frage ich ihn, als die Türen des Aufzugs sich öffnen.
Er antwortet nicht, während wir den Lift betreten. Er hat einen Schlüsselanhänger in der Hand, mit dem er vor dem schwarzen Rechteck entlangfährt, das sich unmittelbar über den Aufzugsknöpfen befindet.
Der Knopf für den zwölften Stock flammt automatisch auf, und wir fahren rasch hoch.
»Marsh, ich habe dir …«
»Ich nenne mich jetzt Marshall«, unterbricht er mich und grinst wieder.
»Marshall«, verbessere ich mich und merke mir, dass er empfindlich geworden ist. »Hör zu, Marshall … Ich weiß diese schweigende Clint-Eastwood-Nummer zu schätzen, die du hier abziehst, aber wirklich – wie oft bekommst du Besuch von Leuten, die du seit deiner Pubertät nicht mehr gesehen hast?«
Darüber muss er lachen, und die wächserne Haut auf seinem Hals wellt sich.
Seine Jacke ist jetzt offen. Mir fällt auf, dass seine Brandwunden über seinen Hals weiterlaufen und im Kragen seines makellos weißen Hemdes verschwinden. Ob er wohl am ganzen Körper verbrannt ist?
Ich blicke auf seine Hände und bemerke zum ersten Mal, dass er Handschuhe trägt. Schweiß sammelt sich in der Mulde über meiner Oberlippe, und ich frage mich, ob die Entscheidung, hierherzukommen, möglicherweise die dümmste Entscheidung meines Lebens gewesen ist.
»Du glotzt, Beecher.«
Ich wende den Blick nicht ab.
»Wenn du mich wegen meiner Verbrennungen fragen willst, dann tu es einfach.«
Ich hebe den Blick, sehe ihn aber weiter an. »Woher hast du diese Brandwunden?«
»Von einem Feuer«, erwidert er. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen, als er lächelt.
»Ich will einfach nur wissen, wie es dir geht, Marshall.«
Die Aufzugstüren öffnen sich, aber wir befinden uns nicht in einer Lobby, sondern in einer kleinen Diele mit einer einzelnen Holztür. Das hier ist ein privater Aufzug in einem sehr privaten Gebäude.
Marshall wedelt erneut mit seinem Schlüsselanhänger, es klickt, und dann stößt er die Tür zu einem langen, schmalen Loft auf. Auf der rechten Seite befindet sich eine etwas altmodische weiße Resopalküche, hinter der ein spärlich möbliertes und ebenso altmodisches Wohnzimmer im Ikea-Stil der neunziger Jahre liegt. Auf der linken Seite blickt man durch eine offene Tür in einen Raum, der wohl ein Schlafzimmer ist.
Marshall tritt zur Seite, klopft mir auf den Rücken und bedeutet mir, als Erster einzutreten.
Er grinst immer noch, als ich hineingehe.
19. KAPITEL
Achtzehn Jahre früher
Sagamore, Wisconsin
»Hör zu, der hier ist noch besser«, sagte Beecher. Er hockte in dem abgeschabten Sitzsack im Baumhaus, den Kopf vollkommen hinter der Zeitung vergraben. »Der Name des Kerls lautet Albert ›Alby‹ Eliopoulos. Er ist mit zweiundsiebzig gestorben. Und dieser Anzeige nach … Himmel, nun hör dir das mal an! Es ist seine Einheit gewesen, die damals die amerikanische Fahne auf Iwojima gehisst hat, aber er war nicht dabei! Zwei Tage vorher hat sich Alby
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