Der fünfte Attentäter: Thriller (German Edition)
des letzten Jahrzehnts. Und das in einer Stadt, wo die angesagten Restaurants so schnell wechseln. Und genau deshalb war ich nie hier. »Warum sind wir im Café Milano?«
»Ich bin mit jemandem verabredet«, erwidert er, während er noch immer das Restaurant absucht. Es dauert nicht lange. Die Tische sind fast alle leer. Und doch ist Marshall hier, lässt seinen Blick durch den Raum wandern, als würde er sich jedes Detail des Gastraums einprägen. Seine Haltung ist jetzt anders als in seiner Wohnung. Er steht gerade und hat das Kinn gehoben. Er arbeitet.
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich bemerke, dass wir von unserem Standort aus einen optimalen Blick auf Ein- und Ausgang haben.
»Marshall, ich weiß, dass hier Präsidenten essen. Und ich weiß auch, was dein Job ist. Diese Penetrationstests … Machst du das wirklich? Suchst du nach Fehlern in ihrem Sicherheitsnetz?«
Er dreht sich zu mir herum und legt seine vernarbte Hand auf den Tresen. »Jetzt hast du mich durchschaut, Beecher. Morgen, kurz vor Mittag, wird Präsident Orson Wallace diesen Gastraum verlassen, bevor er mit seiner Tochter und ihrer Klasse einen Ausflug zum Lincoln Memorial macht. Ich werde mich hinter ihn schleichen, ihm mit seinem Steakmesser die Kehle durchschneiden und ihm seine Luftröhre in den Schoß legen.« Während er das sagt, grinst er spöttisch.
»Das ist nicht komisch, Marsh. Wieso sagst du so etwas?«
»Ist es nicht genau das, was ich sagen soll, Beecher?« Er ist immer noch vollkommen gelassen. »Bist du nicht deshalb hergekommen, um zu beweisen, dass ich ein herzloser Mörder bin?«
Der Barkeeper wird endlich auf uns aufmerksam. Ebenso der Maître d’HÔtel. Aber Marshall hat nur einen finsteren Blick für sie übrig und geht dann langsam, als würde ihm das Restaurant gehören, durch den Raum und zur Vordertür hinaus, mit mir im Schlepptau. Niemand nähert sich ihm. Sie wittern den Wolf.
Auf der Terrasse des Restaurants stehen ein paar schmiedeeiserne Tische, die mit Schnee bedeckt sind. Es gibt keine Möglichkeit, sich hinzusetzen. Aber wenigstens hört niemand zu.
»Wenn du etwas wissen willst, Beecher, dann frag mich gefälligst direkt.«
»Wie geht es deinem Vater?«
»Er ist gestorben. Vor drei Jahren.«
»Das tut mir leid, Marsh. Ich hatte keine …«
»Er war sehr lange krank«, unterbricht er mich. Er hat diese souveräne Gelassenheit, die man sich aneignet, wenn man sich allmählich an Tragödien gewöhnt hat.
Seine Worte lassen mich meinen eigenen Dad vermissen, was nicht gerade erstaunlich ist. Er ist gestorben, als ich erst drei Jahre alt war. Vor zwei Monaten hatte Clementine gesagt, dass sie die wahre Geschichte über den Tod meines Vaters kennen würde. Ich weiß zwar, dass sie mich damit nur manipulieren wollte, aber das bedeutet nicht, dass ihre Worte keine Narbe hinterlassen hätten.
Während wir vor dem Restaurant herumstehen, warte ich darauf, dass Marshall noch etwas sagt, doch er betrachtet nur unsere Umgebung,beobachtet das Bürogebäude auf der anderen Straßenseite und jedes Fenster, das auf uns herunterblickt.
»Willst du mir nicht erzählen, was wirklich in dieser Kirche passiert ist?«, frage ich ihn.
»Ich habe dir erzählt, was passiert ist.«
»Du warst also nur zufällig dort? Und hast nur ein bisschen gebetet?«
»Was stimmt nicht daran, wenn man nur ein bisschen betet? Willst du mir sagen, dass du das nicht mehr tust?«
Meine Schulter stößt gegen eine der Metallstangen, die die blaue Markise des Restaurants halten, und Schnee rieselt auf die Erde herunter. Wieder denke ich an meinen eigenen Vater. »Ich habe wirklich Nachforschungen über dich angestellt, Marshall. Dieses Zeug bei GAO … Ich weiß genau, wie gut du darin bist, an Orte zu kommen, an denen du eigentlich nicht sein solltest. Also hör auf, mich zu beleidigen. Warum warst du wirklich gestern Nacht in der St. John’s Church?«
Er benimmt sich immer noch vollkommen professionell. Er starrt weiter über die Straße und beobachtet die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite.
»Marshall, wenn du in Schwierigkeiten bist …«
»Ich brauche deine Hilfe nicht, Beecher.«
»Das stimmt nicht. Ein Mann wurde ermordet. Und du bist deshalb verhaftet worden!« Ich spreche zischend und muss mich beherrschen, um nicht zu schreien. »Diese Gruppe, mit der ich zusammenarbeite … statt uns einfach stur zu ignorieren …« Ich schlucke meine Worte herunter und stelle überrascht fest, wie wütend ich
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