Der fünfte Mörder
SchlieÃlich fand sich noch eine ältere Dame, die ihre katastrophale Kurzsichtigkeit durch besondere Schärfe anderer Sinne zu kompensieren versuchte. Sie gab zu Protokoll, die Frau habe nach einem Parfum von Jean Paul Gaultier namens Fragile geduftet.
Alle Zeugen schätzten das Alter der weiÃblonden Unbekannten zwischen fünfundzwanzig und Anfang dreiÃig.
Jedes Mal, wenn ich von Klara Vangelis ein neues Detail erfuhr, wurde das Bild in meinem Kopf deutlicher. Ich sah die kecke Wuschelfrisur wieder vor mir, die dunkle Hose, die pinkfarbenen Schuhe. Ich roch das Parfüm und wusste doch, dass alles nur Einbildung war. In wenigem sind wir Menschen so kreativ wie darin, uns an Dinge zu erinnern, von denen andere behaupten, wir hätten sie wahrgenommen. Sicher erinnerte ich mich an nichts als an einen Schrei, aufgerissene Augen, das helle, kurze Haar, eine vor den Mund geschlagene Hand. Ich hatte die Frau ja nicht einmal eine halbe Sekunde lang angesehen, dann hatte ich mich wieder dem Ort der Bedrohung zugewandt, dem qualmenden und fast sofort in Flammen aufgehenden Wagen.
Eine Hand oder zwei?
Hatte die Frau eine Hand vor den Mund geschlagen oder zwei? Ich meinte, es sei nur eine gewesen. Die rechte hing herab. Aus der war ihr das Portemonnaie entglitten, das am Boden lag. Und die Handtasche. Oder hatte sie etwas in der rechten Hand gehalten? Ein Kästchen zum Beispiel, voller Elektronik und mit einem kleinen, roten Kopf daran?
Die frustrierende Wahrheit war: Ich wusste es nicht. Ich konnte aus meinem Gedächtnis problemlos beide Bilder abrufen â die Frau mit einer Hand oder mit beiden Händen vor dem Mund. Nur bei den aufgerissenen Augen war ich mir sicher. Und bei dem Schrei und den Haaren.
Immerhin hatten wir nun eine selten gute Personenbeschreibung und ein in meinen Augen gelungenes Phantombild.
Ich beschloss, nun endlich nach Hause zu fahren und mich um meine Töchter zu kümmern, von denen ich den Tag über nichts gehört hatte. Was hoffentlich ein gutes Zeichen war.
Als ich den Peugeot vor meiner Wohnung in der KleinschmidtstraÃe abstellte, begann es schon zu dunkeln, und inzwischen war ich nur noch müde. Die vergangene Nacht war zu kurz gewesen, der Tag lang und anstrengend. Die Kastanienbäume verloren schon ihre ersten Blüten, stellte ich zu meiner Ãberraschung fest. Dabei war mir gar nicht aufgefallen, dass sie geblüht hatten.
Schon an der Wohnungstür schlug mir ein Geruch entgegen, als hätte es gebrannt. Hastig zog ich mein Jackett aus, warf es über die Garderobe und machte mich auf die Suche nach dem Ort der neuen Katastrophe. Er war rasch gefunden: wieder die Küche. Es sah aus, als hätte die Russenmafia auf dem Herd eine zweite Bombe zur Explosion gebracht.
Offenbar hatten die Zwillinge versucht, etwas zu braten, und wahrscheinlich hatte zum falschen Zeitpunkt irgendein Handy geklingelt. Die Kacheln hinter dem Herd, die Dunstabzugshaube, der darüber hängende Wandschrank â alles war grau vom RuÃ, und trotz der weit offen stehenden Balkontür stank es zum Davonlaufen. Die Gerätschaften, die meine missratene Brut bei ihrem Kochexperiment benutzt hatte, lagen um das Zentrum des Desasters herum verstreut. Auf dem Tisch vertrockneten zwei aufgeschnittene Brötchen, die es vermutlich als Beilage hatte geben sollen, daneben standen ein Glas Essiggurken und eine offene Ketchupflasche. Immerhin schien der Schaden ohne Totalrenovierung behebbar zu sein.
Ich rief die Namen der beiden kulinarischen Bruchpiloten, erhielt jedoch keine Antwort. Anscheinend war man vorsichtshalber ausgeflogen. SchlieÃlich entdeckte ich am Kühlschrank einen gelben Klebezettel. Umringt von Smilies stand darauf in allerschönster Handschrift: »Sind bei Silke. Sorry wegen der Küche. Machen morgen sauber. hdgdl S+L«
Und natürlich waren ihre Handys ausgeschaltet.
Es gelang mir, meinem ersten Impuls nicht nachzugeben und die Schweinerei nicht selbst aufzuräumen. Ich stellte lediglich die verderblichen Sachen in den Kühlschrank, fand dort noch etwas Salami und Camembert. In der Mikrowelle taute ich mir zwei Brötchen auf, öffnete eine Flasche Durbacher Spätburgunder, der nach meinen Erfahrungen gut für die Nerven von mit pubertierenden Töchtern geplagten Vätern war, trug alles ins Wohnzimmer und suchte eine ruhige Musik in meiner CD -Sammlung. Meine Wahl fiel auf Mark Knopfler, »Get lucky«. Ein
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